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Gesamtschulen - bekämpft, umstritten, verteidigt

Die Schulform, von Kritikern als „pädagogisches Hätschelkind der SPD“ gegeißelt, war damals „in“, vielen Eltern erschien sie als echte Alternative.

Von Matthias Schmoock

Umstritten, bekämpft, verteidigt - keine andere Schulform hat in Hamburg im laufe der Zeit soviel Staub aufgewirbelt wie die Gesamtschule. Mittlerweile ist es genau 40 Jahre her, das die erste an den Start ging.

Der Beginn war eher unspektakulär. Im Herbst 1967 kündigten Hamburgs Zeitungen an, dass es ab Ostern 1968 Gesamtschul-Versuche in vier Stadtteilen geben werde. Vorgesehen seien: "die Albert-Schweitzer-Schule, die Volks- und Realschule Alter Teichweg, das Heinrich-Hertz-Gymnasium zusammen mit der Volks- und Mittelschule Grasweg und das Gymnasium Farmsen zusammen mit der Volks- und Mittelschule Surenland".

Am 1. April 1968 wurde dann die Gesamtschule Alter Teichweg offiziell eröffnet - als erste integrierte Gesamtschule Hamburgs. Eine massive Werbekampagne hatte dafür gesorgt, dass 327 Eltern ihre Kinder anmelden wollten, schließlich wurden 187 angenommen. Wie schwierig es zunächst war, Schüler an Neuheiten wie Differenzierung und Kurssystem zu gewöhnen, zeigt ein Konferenzbericht von 1968, der in der Festschrift der Schule veröffentlicht ist: „Während des Unterrichts herrscht eine permanente Unruhe. Es wird derart mit Apfelresten, Weintrauben und Papier geworfen, dass Schüler, Wände, Schränke, Scheiben, Tafel und Tische voll geschmiert sind (...). Einige Eltern überlegen jetzt, ob sie ihre Kinder noch guten Gewissens in der Schule lassen können (...).“

Ihre größte Boomphase erlebte die Gesamtschule in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren. Entscheidend dafür war eine Präambel im Schulgesetz von 1977. Darin wurde festgelegt, dass der Elternwille „bei der Wahl der im Gesetz vorgesehenen Schulformen entscheidet“. Prof. Joist Grolle (SPD), der 1978 Schulsenator wurde, sagt heute, die Behörde sei selbst überrascht gewesen, wie stark die Gesamtschulen, die zu diesem Zeitpunkt immer noch den Status eines Schulversuchs hatten, damals nachgefragt wurden. Die Gesamtschulen, von Kritikern als „pädagogisches Hätschelkind der SPD“ gegeißelt, waren damals „in“, vielen Eltern erschienen sie als echte Alternative zum bestehenden Schulsystem. 1979 gab es schon acht Gesamtschulstandorte, im selben Jahr wurden zwölf weitere gegründet. Schließlich brachte die SPD in der Bürgerschaft einen Antrag ein, die Gesamtschule aus dem Schulversuch herauszunehmen und fest zu verankern. Im Oktober 1979 wurde die sie dann Regelschule - und damit Gesetz.

Von Anfang an war der Streit um die Gesamtschule politisch besetzt. Die CDU warf den Befürwortern vor, die Gymnasien auszuhöhlen, Haupt- und Realschulen an die Wand zu fahren. Die Gesamtschulen dagegen würden ideologisch bevorzugt und mit Geld und Personal verwöhnt. Der Gipfel war wohl eine harte politische Auseinandersetzung in den 80er-Jahren, als die Christdemokraten der Schulbehörde unter anderem vorhielten, falsche Anmeldezahlen vorzulegen, um das Großprojekt als Erfolg feiern zu können. Die Befürworter konterten, die CDU negiere den Elternwillen, faktisch sei die Gesamtschule beliebt und begehrt.

Heute ist von den politischen Auseinandersetzungen früherer Jahre nicht mehr viel übrig geblieben. Auch konservative Bildungspolitiker attestieren vielen Gesamtschulen, dass sie ihre Schüler engagiert fördern. Andererseits ist die Zahl der Eltern, die ihre Kinder aus inhaltlichen Gründen dort anmelden, drastisch zurückgegangen. Faktisch werden in etlichen Gesamtschulen kaum noch Schüler mit einer Gymnasialempfehlung angemeldet, an manchen Standorten machen sie nicht mal mehr fünf Prozent in einer Klasse ein. Damit ist in solchen Klassen zumindest ein Anspruch der Gesamtschule von einst gescheitert - das gemeinsame Lernen ohne Druck, bei dem stärkere Schüler die Schwächeren motivieren.

Heute gibt es 39 Gesamtschulen in Hamburg. Ob sie in wenigen Jahren den Kern von „Stadtteilschulen“ bilden, wird sich erst nach den laufenden Koalitionsverhandlungen zeigen.

Hamburger Abendblatt, 04.042008, Seite 15


Quelle:
http://www.abendblatt.de/daten/2008/04/04/865292.html

 

Jubiläum Vor 40 Jahren wurde die Schulform in Hamburg eingeführt

„Wir wollten etwas bewegen“

„Schwung und Elan hatten wir und wollten etwas bewegen!“ Richtig ins Schwärmen geraten sie - die Lehrer der ersten Stunde an der Gesamtschule Alter Teichweg. Zur Feier des Jubiläums kamen einige der Pauker von einst wieder an ihre „Penne“.

„Wir wollten mehr sein als bloße Wissensvermittler. Wir wollten ein durchlässiges System, das die Schüler differenziert und nicht als Genies oder Idioten abstempelt“, berichtet Hans Rickleffs, der bis 1986 lehrte. „Das Projekt Gesamtschule war äußerst umstritten“, erinnert sich Monika Behrmann, die bis 1996 im Schuldienst war, „und deshalb verließen seinerzeit auch viele Lehrer und Schüler den Alten Teichweg, um weiter an einer 'normalen' Schule zu sein.“ Dabei sei der Versuch Gesamtschule „zunächst holprig, nach und nach aber ziemlich erfolgreich“ gewesen, sind sich die Ex-Kollegen einig: „Anfangs wurden Stunden- und Lehrpläne im Morgengrauen vor dem Unterricht erstellt“, erinnert sich Anita von der Geest, die bis 1998 unterrichtete. Günter Sturm, bis 2002 Lehrer, ergänzt: „Die Mathepauker waren ihren Schülern zum Beispiel in Mengenlehre immer nur eine Stunde voraus.“ Eugen Tanck, bis 1971 Lehrer am Alten Teichweg, meint: „Es wurde damals viel versprochen und viel gehalten: Extrastunden, Sonderausstattung und innovative Fächer wie 'Arbeitslehre' hat es zu Beginn gegeben.“ Die Runde sagt einmütig: „Das Miteinander, die Teamarbeit und die fröhliche Grundstimmung sind typisch Gesamtschule.“

hpcmb

Hamburger Abendblatt, 04.042008, Seite 15


Quelle:
http://www.abendblatt.de/daten/2008/04/04/865326.html

 

 

 

IRRTUM GESAMTSCHULE

Wie aus dem Reformtraum ein Alptraum wurde

Von Christian Füller

Bei Streit um eine "Schule für alle" wettern die Gegner stets gegen das Ungetüm einer "sozialistischen Einheitsschule". Dabei hat es in Deutschland eine echte Gesamtschule nie gegeben - früh machten ihr die Kultusminister mit einem trickreichen Geheimbeschluss den Garaus.

Der Vorsitzende in der Runde gibt sich streng. Eine heikle und langwierige Sitzung steht bevor. Der Minister veranlasst, alle Mitarbeiter aus dem Saal zu weisen. Die Sitzung soll im Geheimen stattfinden. Wir schreiben das Jahr 1982. Die elf westdeutschen Kultusminister sitzen in ihrer ständigen Konferenz (KMK) zusammen, um über ein deutsches Phantasma zu befinden: die Gesamtschule oder, wie ihre Gegner sagen, die "sozialistische Einheitsschule".

Mehrere Bundesländer hatten sie zehn Jahre lang gestestet. Nun sind die Minister aufgefordert, die Gesamtschule anzuerkennen. Als der Vorsitzende der Runde, Bayerns Kultusminister Hans Maier (CSU), spricht, verkündet er freilich nicht den Anfang, sondern das Ende der Gesamtschule.

Denn was die Kultusminister nun beschließen, ist keine Gesamtschule, sondern ein Mutant, ein Bastard des Zieles aller Reformpädagogen. Im bildungspolitischen Aufbruch der siebziger Jahre sollte eine "Schule für alle" die Klassenschranken einreißen. Willy Brandts Slogan "Mehr Demokratie wagen" bedeutete auch: die Öffnung der Bildungseinrichtungen für die unteren Schichten, die Überwindung der gegliederten Schule aus dem Kaiserreich - der Traum aller deutschen Bildungsreformer seit Wilhelm von Humboldts Königsberger Schulplan (von 1809).

Etwas völlig anderes ist allerdings, was 1982 in die "Rahmenvereinbarung über die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen an integrierten Gesamtschulen" geschrieben wurde. Echte Gesamtschulen wurden in dem Papier nicht etwa anerkannt, sondern verboten. Auch Gesamtschulen, heißt es da, müssen "eine äußere Fachleistungsdifferenzierung vorsehen für Mathematik, 1. Fremdsprache, Deutsch, Physik und Chemie". Das bedeutet: Sie müssen ihre Schüler wieder säuberlich auseinander sortieren - obwohl sie das ihrer Idee nach gerade nicht sollten. Seitdem nehmen die Kultusminister Abiture nur von Gesamtschulen hin, die in den Hauptfächern eine bonsaihafte Kopie des gegliederten Schulwesens errichteten. Die Pseudo- oder KMK-Gesamtschule war geboren.

Was damals beschlossen wurde, klingt wie eine unbedeutende Anekdote der Geschichte. Tatsächlich aber hat es Auswirkungen bis heute.

Kulturkampf um die Gesamtschulen

Pseudo-Gesamtschulen gehören von den Leistungen genau wie von der sozialen Abhängigkeit der erzielten Erfolge zu den schlechtesten Schulen Deutschlands. Nur Hauptschulen sind schlechter. Kein Wunder: Der pädagogische Aufbruch wurde den KMK-Gesamtschulen damals ausgetrieben. Auch sie wurden, wie Reformer sagen, vom "Auslesebazillus" befallen.

Täglich wird den Schülern in Gesamtschulen mehrfach vor Augen geführt, dass es höhere und niedere Begabungen gibt - wenn nämlich Schüler durchs Schulhaus in ihre A-, B- und C-Kurse pilgern. Kommen die Lehrer einer einzigen Klasse zu Notenkonferenzen zusammen, befinden sich mitunter 28 Kollegen am Tisch.

Gegner wie Fans der Gesamtschule nennen es noch heute den Kardinalfehler dieser Schulform, dass sie ihren Schülern "die Strapazen der Differenzierung und das tägliche 'Selegiertwerden' zumutet". So konnte damals ein Fake Furore machen. Eine Gesamtschule, die gar keine war, brannte sich im kollektiven Gedächtnis als Synonym für Schulkampf und Schulkrampf ein.

Aber die Volte der Geschichte war kein Zufall, sondern ein Trick der konservativen Kultusminister. Sie hatten die Einführung einer funktionsunfähigen Pseudo-Gesamtschule von langer Hand geplant. Dazu mussten sie nur die Bildungseuphorie der sechziger Jahre verebben lassen.

"Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Statistik am untersten Ende der europäischen Länder", so will es eine dramatische Anklage an die deutsche Bildungspolitik. Das düstere Szenario einer Bildungskrise wird an die Wand gemalt. Junge Wissenschaftler würden zu Tausenden das Land verlassen, für die Wirtschaft stünde nicht genug qualifizierter Nachwuchs bereit. "Wenn das Bildungswesen versagt", steht in dem Papier, "ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht."

Kurzer Frühling für die Reformschulen

Was sich anhört wie die Kurzfassung der jüngsten Pisastudie, ist ein über 40 Jahre alter Text. Er stammt von Georg Picht, heißt "Die Bildungskatastrophe" und markiert den Beginn eines Aufbruchs.

Deutschland in den frühen sechziger Jahren: Wachgerüttelt vom Journalisten Picht und einer vergleichenden Untersuchung der OECD wird sich die Nation klar, wo ihre Schulen stehen - ganz unten. Der Soziologe Ralf Dahrendorf schreibt 1965 das Buch "Bildung ist Bürgerrecht". Der Bundeskanzler und der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, auch das ein Novum, geben gemeinsam einen Bildungsbericht heraus. Ein bildungspolitischer Frühling erfasst Gesellschaft und Politik. Ein gewisser Bernhard Vogel (CDU) spricht sich dafür aus, die gemeinsame Grundschulzeit von nur vier Jahren zu verlängern. Einige Länder führen Gesamtschulen ein - auf Probe.

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Dass über eine auf sechs Jahre verlängerte Zeit in der Grundschule heute wieder debattiert wird - wie derzeit in Hamburg -, hat einen einfachen Grund. Nicht der liberale Kultusminister Vogel setzte sich in der Union durch. Hinter ihm standen einige konservative Kollegen und mauerten, allen voran die der CSU aus Bayern. Sie spielten auf Zeit und ließen die sogenannten Gesamtschulen evaluieren, bereits in ihrer Schrumpfform.

Als Jahre später dann die Pseudo-Gesamtschule zur Abstimmung kam, war der Frühling längst vorbei. Längst hatte es da in Hessen und Nordrhein-Westfalen erbitterte Schulkriege gegeben. Und so konnte die Gesamtschule in der Sitzung von 1982 auf kaltem, bürokratischem Wege erledigt werden. Lediglich sechs echte Gesamtschulen wurden genehmigt - im Anhang des Beschlusses, namentlich aufgezählt wie in einem Steckbrief. Die Bayern haben gewonnen, die Gesamtschule ist eine Fußnote der Geschichte.

Nur als Kampfbegriff war die Gesamtschule ein Erfolg

Dabei hätten die Schulreformer nach Picht ahnen können, welchen Gegner sie haben. Hätten sie nur ein bisschen Geschichte studiert. Dann wäre ihnen klar gewesen, dass Bayern die reaktionärste Schulpolitik aller deutschen Länder betreibt. Das ist keine linke Anklage, sondern die Einschätzung aus Lageberichten der US-Armee aus den Jahren um 1947. An der Einführung einer Gesamtschule bissen die Amerikaner sich die Zähne aus. Der Oberkommandierende der amerikanischen Truppen, Lucius D. Clay, zog bereits 1950 eine ernüchterte Bilanz. "Noch immer ist die Schulreform ein Hauptziel unseres Programms", kabelte er in einem Bericht nach Washington. Aber er werde die Schulreform nicht militärisch durchsetzen. "Wir hoffen, dass das deutsche Volk sie selbst einführen wird."

Die US-Truppen und ihre zivilen Berater waren 1945 mit einem eindeutigen Ziel nach Deutschland gekommen: Deutschland sollte endlich demokratisch werden. Hohe Priorität für alle Alliierten hat dabei die Neuordnung des Schulwesens. Bei den US-Amerikanern hieß das unmissverständlich: "Demokratisierung der Schulstruktur". Die kaiserliche getrennte Schule habe blinde Autoritätshörigkeit vermittelt, die unteren Schichten systematisch von höheren Schulen ferngehalten. In der US-Zone sollte daher ein Gesamtschulsystem für alle Schüler entwickelt werden. Alle Kinder sollten mindestens sechs Jahre Grundschule gemeinsam verbringen, "ohne nach Geschlecht, sozialer Herkunft, Rasse, Berufen oder Berufswünschen getrennt zu werden".

Alois Hundhammer, damals Bayerns Kultusminister, war das egal. Er wehrte sich heftig gegen die Einführung einer Schule für alle. Dagegen sprach eine in seinen Augen unverrückbare Tatsache: Begabung sei "nur einem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis vorbehalten", daher müsse ein Einheitsschulsystem fehl gehen. "Denn diese biologisch gegebene Ungleichheit [die Begabung, Red.] kann durch keine zivilisatorische Maßnahme beseitigt werden."

Die amerikanischen Offiziere waren schockiert. Sie hatten Deutschland erobert, um das Land zu zivilisieren. Gerade hatten sie das Grauen der Konzentrationslager entdeckt, wohin die Nazis Menschen aufgrund biologischer Eigenschaften aussortiert hatten. Nun trafen sie auf einen führenden deutschen Politiker, der erneut biologische Argumente benutzte - diesmal um die Sortierung von Zehnjährigen innerhalb eines Schulsystem zu rechtfertigen.

Ob die echte Gesamtschule, die heute Gemeinschaftsschule heißt, wirklich besser ist als gegliederte Schulformen, muss sie erst beweisen. Aber jeder Reformer, der sich heute an sie heranwagt, sollte sich die Karriere der "sozialistischen Einheitsschule" genau anschauen. Er kann daraus lernen: In der Realität hat es sie nie gegeben - aber als Kampfbegriff und Zerrbild war sie immer erfolgreich.

Christian Füller ist Redakteur der "taz"und Autor des neuen Buches "Schlaue Kinder, schlechte Schulen: Wie unfähige Politiker unser Bildungssystem ruinieren - und warum es trotzdem gute Schulen gibt" (Verlag Droemer-Knaur).

Quelle: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,545271,00.html

 

 

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