Presseschau im Mai 2003 (Teil 2)

 

http://www.abendblatt.de/daten/2003/05/21/167069.html

Eklat bei Anhörung im Rathaus


Die öffentliche Anhörung im Schulausschuss der Bürgerschaft hat zum Eklat geführt: Die Abgeordneten von SPD und GAL verließen aus Protest den Kaisersaal des Rathauses. Die Opposition wollte nicht an der Abstimmung über den Schulgesetz-Entwurf von Bildungssenator Rudolf Lange (61, FDP) teilnehmen.

"Hauptkritikpunkt ist die Weigerung der Regierungsfraktionen, sich mit den Äußerungen der Eltern und Schüler überhaupt ernsthaft zu beschäftigen", sagte die SPD-Abgeordnete Britta Ernst (42). "Die Anhörung war nicht mehr als eine Farce", sagte Christa Goetsch (50, GAL).

Rund zwei Stunden hatten Eltern, Schüler und Lehrer vor rund 200 Zuhörern ihre Bedenken vorgetragen. Dabei ging es um Fragen der Integration, der verbindlichen Einführung von Notenzeugnissen ab Klasse drei sowie darum, ob der Entwurf die richtigen Konsequenzen aus der Pisa-Studie zieht. Bei einer Anhörung dürfen Bürger ihre Positionen zu Vorhaben der Bürgerschaft vortragen. Die Parlamentarier sollen auf diesem Weg die Meinung der Betroffenen in ihre Entscheidungen einbeziehen.

Doch die Regierungsfraktionen drängt die Zeit: Bereits am 4. Juni wollen sie das Gesetz in erster Lesung in der Bürgerschaft beraten. Deswegen musste der Schulausschuss schnell entscheiden. Übrigens: Das Verhalten ist SPD und GAL nicht fremd. Vor zwei Jahren zogen die beiden Fraktionen - damals noch in der Regierung - eine Anhörung zum umstrittenen Privatschulgesetz trotz erheblichen Protests von Eltern, Lehrern und Schülern ebenso ungerührt durch. Ort: damals wie heute der Kaisersaal. pum

erschienen am 21. Mai 2003 in Hamburg



http://www.abendblatt.de/daten/2003/05/21/167129.html

Demo gegen Hochschulgesetz


Die AStA-Gruppen haben zu einer Demo gegen das Hochschulmodernisierungsgesetz aufgerufen, das heute in der Bürgerschaft verabschiedet werden soll. "Wir erwarten, dass etwa 1000 Gesetzesgegner teilnehmen", sagt Jenny Weggen, 1. Vorsitzende im Uni-AStA. Beginn ist um 14 Uhr am Audimax, Abschlusskundgebung gegen 16 Uhr am Jungfernstieg. (hpcb)

erschienen am 21. Mai 2003 in Hamburg



http://www.abendblatt.de/daten/2003/05/21/167133.html

Ditze-Preis für Studenten


"Durch ihre Aktivitäten haben die Preisträger das studentische Leben auf dem Campus bereichert", sagte Heinz-Günther Vogel (70) von der Karl Heinz Ditze Stiftung. Gestern überreichte der Vorsitzende den 200 Studierenden der Fachschaft Schiffbau an der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH) den Ditze- Preis.

Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung geht an Studierende, die sich in besonderer Weise für die TUHH engagieren. Für die Ausrichtung der Tretbootregatta 2001 und die Erstellung der Ordenschronik über den studentischen Zusammenschluss der "Heyligen Frawe Latte" wurde die Fachschaft prämiert.

Zu Ehren Ditzes benannte TUHH-Vizepräsident Professor Ulrich Killat (59) ferner einen Hörsaal nach dem Hamburger Kaufmann und Uni-Mäzen. Der Grund: "Die Stiftung unterstützt die Internationalisierung der TUHH in herausragender Weise" so Killat in der Laudatio. hpdaf

erschienen am 21. Mai 2003 in Hamburg



http://www.welt.de/data/2003/05/21/99448.html

Schulgesetz: Eltern sprechen nach Anhörungsrunde von "Volksverdummung"
von Nicola Sieverling

Mit einem Eklat endete die öffentliche Anhörung im Rathaus über die Schulgesetzänderung. "Das war Volksverdummung und ein Schlag ins Gesicht der anwesenden Eltern, Lehrer und Schüler", erklärte Karen Medrow-Struß, Chefin des Elternvereins nach der Sitzung auf WELT-Anfrage. Hauptkritikpunkt ist, dass die rund 160 geladenen Bürger keine Frage stellen durften und ihre Meinungen und Einwände zum Schulgesetz keinen Eingang in eine weiterführende Beratung nehmen durften. Stattdessen wurde ein Gegenentwurf von SPD und GAL zur Novelle mit der Mehrheit der Ausschussvertreter der Regierungskoalition abgelehnt. SPD-Schulexpertin Britta Ernst und GAL-Fachkollegin Christa Goetsch verließen aus Protest vorzeitig die Sitzung.

Dafür hat nun Bürgermeister Ole von Beust Post erhalten: In einem offenen Brief des Elternvereins wird sein Demokratieverständnis in Frage gestellt. Beust solle dem Ausschussvorsitzenden Wolfgang Drews unmissverständlich klar machen, dass dieser Politstil und ignorante Umgang mit der öffentlichen Meinung von Hamburgs Bürgern nicht hingenommen werde", heißt es in dem Schreiben.

Unterdessen muss auch Bildungssenator Rudolf Lange mit verstärktem Gegenwind von Eltern gegen sein Arbeitszeitmodell rechnen. Als erster von 15 Kreiselternratsvorsitzenden hat sich Frank Ramlow, zuständig für die Schulen in Billstedt, Horn und Öjendorf, für einen Schulboykott ausgesprochen. Voraussichtlich an einem Tag im Juni werden Eltern in den ersten beiden Schulstunden das Gebäude einer Grund-Haupt- und Realschule in Billstedt für Schüler und Lehrer sperren. Die Kinder sollen sich während dieser Zeit auf dem Schulhof versammeln. Der Protest richtet sich gegen den drohenden Abbau von zwei Lehrerstellen durch das Arbeitszeitmodell. Das 32-köpfige Lehrerkollegium an Hamburgs einziger Schule mit eigenem Schwimmbecken will darüber hinaus Sportwettkämpfe, Klassenreisen, Schulfeste und die Weihnachtsfeier streichen.


Artikel erschienen am 21. Mai 2003



http://www.welt.de/data/2003/05/21/99356.html

"Unsere Schüler brauchen mehr Allgemeinbildung und Gewissenhaftigkeit"
Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg gestern neue verbindliche Bildungsstandards vorgelegt - und damit Konsequenzen aus dem schlechten Abscheiden Deutschlands bei der internationalen Lernleistungsstudie Pisa gezogen. "Weniger ist mehr" lautet das Motto von Bildungsministerin Anette Schavan (CDU).

Die WELT: Frau Schavan, Sie haben Stundenpläne um fast die Hälfte verschlankt. Warum sollen Schüler im Südwesten weniger lernen?

Annette Schavan: Im Gegenteil: Sie sollen mehr lernen. Wir wissen, und zwar nicht erst seit Pisa, dass ausufernde Lehrpläne die Qualität des Gelernten herunterreißen. Unsere Schulen litten an zu großer Spezialisierung. Zu oft war es so, dass die Schüler sich in der Stofffülle verzettelten, das Wesentliche aus den Augen verloren. Man lernte fleißig für die nächste Klausur, und vergaß im Anschluss sofort das Gepaukte. Die neuen Bildungsstandards sind unter dem Motto "Weniger ist mehr" verfasst.

Die WELT: Was sollen Schüler künftig nicht lernen?

Schavan: Beim der Neukonzeption und Reduzierung der Lehrpläne haben wir nach einem klaren Grundsatz gehandelt: Spezialisierung soll abgebaut, Allgemeinbildung und Gewissenhaftigkeit dagegen im Vordergrund stehen. Künftig werden die Schüler zwar weniger Masse lernen, dafür ist aber mehr Zeit zum Vertiefen des Stoffs vorgesehen. Dies wird verbunden mit mehr Freiheit und Eigenverantwortlichkeit für Lehrer.

Die WELT: Politik und Gesellschaft fordern aber das Gegenteil: Tritt irgendwo ein Defizit zu Tage, wird ein neues Schulfach gefordert.

Schavan: Ja, aber damit wird künftig Schluss sein. Schule kann nicht auf jeden Trend durch Ausweitung der Lehrpläne reagieren. Natürlich bleibt Schule offen für neue Entwicklungen in der Gesellschaft. Dem tragen so genannte "Fächerverbünde" wie "Wirtschaft-Recht-Soziales" Rechnung. Hier kann dem Bedarf nach Aktuellem Wissen entsprochen werden, ohne in Spezialistentum zu verfallen.

Die WELT: Was wird sich in der Grundschule ändern?

Schavan: Die Grundschulstudie Iglu hatte gezeigt, dass unsere Grundschulergebnisse nicht so schlecht sind. Dennoch wird es Änderungen geben: Beispielsweise landesweiter Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse, einen komplett neuen Ansatz im Heranführen an Mathematik, die Stärkung der Lesekompetenz und mehr bewegungsorientierter Unterricht. Wir haben festgestellt, dass die Konzentration und Leistungen steigen, wenn Lernphasen immer wieder durch Spiel und Sport unterbrochen werden.

Die WELT: Baden-Württemberg hatte bei Pisa mit am besten abgeschnitten. Dennoch preschen Sie vor. Bestand überhaupt Handlungsbedarf?

Schavan: Ja, denn unser Ziel ist es ja, auch im internationalen Vergleich künftig besser dazustehen als bei Pisa. Im Gegensatz zu anderen Ländern kannten wir schon vor Pisa die Schwächen unserer Schulen. Unsere Ansätze zur Erarbeitung der neuen Bildungsstandards stammen von 2001. Im Übrigen: Wer gut ist wie wir in Baden-Württemberg, ist oft viel besser in der Lage, noch besser zu werden.

Die WELT: Werden die Länder Ihnen folgen?

Schavan: Ich bin optimistisch, dass sich die anderen Bundesländer unseren Vorgaben anschließen werden. Der gemeinsame Beschluss der Kultusministerkonferenz lautete ja, bis 2004 verbindliche Bildungsstandards zu vereinbaren. So soll die dringend notwendige Vergleichbarkeit der Lernergebnisse zwischen den Bundesländern hergestellt werden. Es herrscht großer Konsens in dieser Frage.

Die WELT: Wenn die Stundentafeln gestrafft werden, könnte auch die Schulzeit verkürzt werden.

Schavan: Wir haben meiner Meinung nach eine große Chance vertan, nach der Wiedervereinigung nicht das 12-jährige Gymnasium von den neuen Bundesländern zu übernehmen. Baden-Württemberg wird dies ab 2004 nachholen. Andere Länder wie das Saarland haben auf zwölf Jahre umgestellt, Sachsen und Thüringen sind nie davon abgewichen. Ich bin sehr optimistisch, dass auch in den anderen Bundesländern bald das 13-jährige Gymnasium der Vergangenheit angehört.


Interview: Kathrin Spoerr


Artikel erschienen am 21. Mai 2003



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0020.nf/text

Eltern am Fließband
Eklat bei Anhörung: CDU, FDP und Schill-Partei stimmten Schulgesetz durch. Eltern planen Schulboykott. Referat für Zweisprachigkeit entfällt
von KAIJA KUTTER
Wozu gibt es bei Gesetzesplänen eine öffentliche Anhörung? Um der Form zu genügen. Diese Einstellung demonstrierten jedenfalls am Montagabend die Schulpolitiker von CDU, FDP und Schill-Partei. Unmittelbar nach Ende der dreistündigen Anhörung, auf der Eltern und Lehrer in rund 70 Wortbeiträgen ihre Kritik am geplanten Schulgesetz vortrugen, ließ der Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Drews (CDU) über das unveränderte Gesetz abstimmen. Die Abgeordneten von SPD und GAL verließen aus Protest den Saal.

"Die Eltern wurden nur pro forma gehört, eine Beratung über ihre Kritik wurde praktisch unmöglich gemacht", empört sich GAL-Politikerin Christa Goetsch. Weder die Ergebnisse der juristischen Expertenanhörung vom 9. Mai noch die der Elternanhörung wurden im Ausschuss beraten. "Es war alles nur eine Farce. Die Eltern verstehen überhaupt nicht, warum sie sich dort drei Stunden verausgabt haben", berichtet auch Sabine Boeddingshaus vom "Elternverein".

Die Wut vermischt sich mit der Empörung über das Lehrerarbeitszeitmodell. So verkündete der Vorsitzende des Kreiselternrats 12 in Billstedt, Frank Ramlow, er werde nach den Pfingstferien auf einer Elternversammlung vorschlagen, die Schule zu boykottieren.
Die Anhörung wirkte auch deshalb skurril, weil dem anwesenden Schulsenator Rudolf Lange (FDP) und der Behördenspitze kein einziges Mal das Wort erteilt wurde. Wie am Fließband durften die Eltern als "Experten" ans Mikrofon treten und Argumente aus fast zwei Jahren Schuldebatte Revue passieren lassen: Ziffernzeugnisse ab Klasse 3 erschweren Integration. Selektion nach Klasse 5 in Gymnasien ist nach PISA unsinnig. Statt Strafen sollte es pädagogische Hilfe für auffällige Kinder geben. Eltern sollten über derartige "Erzieherische Maßnahmen" informiert werden. Fachoberschulen dürfen bei schwindenden Ausbildungsplätzen nicht abgeschafft werden, die Integrierte Haupt- und Realschule gehört als Erfolgsmodell ins Schulgesetz: Beachtet wurde das alles nicht.

Erstmals bekannt wurde indes, dass die Zweisprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund nicht wie bisher gefördert werden soll. Ein entsprechender Zusatz in Paragraph 3 des Schulgesetzes entfällt. Nihat Ercan vom "Bündnis Türkischer Einwanderer" kritisierte, dass zugleich das entsprechende Referat in der Schulbehörde "ersatzlos" wegfalle. "Mit ihr verlieren wir sehr viel Sachverstand. Wer soll jetzt die neuen Rahmenpläne für Türkisch erstellen?", fragte Ercan, der von Hamburgs früherer Ausländerbeauftragten Ursula Neumann unterstützt wurde.

Die Professorin der Erziehungswissenschaft wies darauf hin, dass Kinder auch die deutsche Sprache besser lernen, wenn sie in ihrer Muttersprache gefördert werden. Auch sei Zweisprachigkeit für Hamburg eine "Ressource", die eine Handelsstadt "dringend benötigt". Neumann warnte zudem davor, Schüler wegen mangelnder Deutschkenntnisse nicht einzuschulen. PISA zeige, dass damit "das Risiko wächst, ohne Abschluss die Schule zu verlassen".

Die Auflösung des Referats wurde gestern von Schulbehördensprecher Alexander Luckow bestätigt. "Es wird keine ausdrückliche Förderung der Bilingualität mehr geben", sagt Luckow. Stattdessen werde ein "Fokus auf die deutsche Sprache gelegt".

taz Hamburg Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 22, 115 TAZ-Bericht KAIJA KUTTER



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0024.nf/text

Malen nach Zahlen
Aus Protest gegen das Lehrerarbeitszeitmodell gaben Kunstlehrer von 43 Schulen den Kindern von Klasse 1 bis 13 eine "Einheitsaufgabe" und ließen sie nach Zahlen malen. Das Ergebnis waren 5000 braune Lemminge. 1054 dieser Exponate wurden im Kunsthaus am Klosterwall ausgestellt, die übrigen zieren die Schulwände. "Künftig haben wir Kunstlehrer nur zwölf Minuten für Vor- und Nachbereitung und müssen bis zu 34 Stunden geben", berichtet Lehrerin Annette Venebrügge. Da sei individuelles Arbeiten eben nicht mehr machbar. "KAJ / FOTO: HENNING SCHOLZ

taz Hamburg Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 22, 6 Zeilen (TAZ-Bericht), KAJ,



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0188.nf/text

Der elektronische Hilfslehrer
Mit "Schola-21" gibt es erstmals einen Lernraum im Internet, der für alle machbar ist. Zwei Stiftungen wollen helfen, die verkannten "Lernprojekte" zu verbreiten - und zu professionalisieren
von CHRISTIAN FÜLLER
"Projekt", bei diesem Wort bekommt Enja Riegel eine heilige Wut. "Alles, was nicht genau in den Lehrplan passt, wird doch inzwischen Projekt genannt", schimpft die pensionierte Rektorin der Wiesbadener Helene-Lange-Schule. "Jeder Lehrer, der seine Schüler mal ein, zwei Stunden selbstständig lernen lässt, macht heute ,ein Projekt'."

Dabei schätzt Riegel Lernprojekte. An der Helene-Lange-Schule sind sie das zentrale pädagogische Instrument. Drei, vier, sechs Wochen kann es dauern, dass die SchülerInnen nicht nach Lehrplan büffeln, sondern ein Theaterprojekt gestalten. Sie geben sich dann selbst ein Thema, eine Fragestellung. Und gehen ihr nach, bis ein Stück auf die Bühne gebracht ist. Im Verlauf des Projekts erkennen die Schüler, was sie nicht wissen, aber wissen müssten - und sich also aneignen sollten. Der Lehrer wird Moderator des Lernens.

Vielleicht wird die Erosion des Begriffes "Projekt" bald gestoppt. Seit etwa einem Jahr nämlich ist für alle deutschen Schulen das Handwerkszeug für Lernprojekte im Internet zu haben. Es heißt Schola-21 und soll Projekten helfen, den roten Faden zu finden. Am Montag haben die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und die Stiftung Mercator in Berlin Bilanz gezogen. Das Ergebnis: Es gibt kaum ein Thema, das mit Schola-21 nicht machbar wäre. Der elektronische Hilfslehrer ist dabei, ein gern genutztes Arbeitsmittel für Lernprojekte zu werden.

Zum Beispiel für die "Halbstarken von Trizonesien". So heißt das Projekt der neunten und zehnten Klassen der Gesamtschule in Kandel (Rheinland-Pfalz). Die Schüler haben sich gefragt, was Jungsein in den 50ern bedeutete. Antworten darauf haben sie nach der Methode der oral history, der erzählten Geschichte, gefunden. Die Kids forschten bei Nachbarn und Großeltern, bei ehemaligen Schülern. In einem Theaterstück brachten sie ihr "Spurenmaterial" unter die Leute. Außerdem gab es eine Ausstellung und eine CD. Die Kandeler und ihr Berater, zu Deutsch: ihr Lehrer Ralf Haug, haben Schola benutzt, um ihr Projekt zu strukturieren und zu dokumentieren.

"In einem Lernprojekt ist noch viel Suchen, nicht alles ist schon entschieden", berichtet Nils Kleemann von der Montessori-Schule in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern). "Also braucht man ein Hilfsmittel, das steuert, ohne die Kreativität der Schüler einzuengen." Das ist das Schola-21-Programm. Es ist kein dicker Ordner oder ein Arbeitsbuch wie beim programmierten Unterricht der 70er-Jahre, der die Schüler stets zu einem festgelegten Lernziel steuerte. Schola-21 ist ein virtueller Lernraum, den die Schüler nur so weit nutzen, wie sie es wollen. Und dabei füllen sie ihn mit eigenen Inhalten - ergebnisoffen. Schola erinnert allenfalls daran, dass am Ende eine Präsentation stehen sollte. Man lernt ja nicht für sich allein.

Für Kleemanns Schüler war am Montag Präsentation. Acht- bis elfjährige Halbwüchsige erklärten den Festgästen im Berliner Museum für Kommunikation, was eine Kartenabfrage ist, wozu die Pinnwand in Schola-21 gut ist und was eine "teamail" ist: "Man kann damit rumschimpfen, aber das machen wir nicht", sagt einer der Kleinen über das Kommunikationsinstrument innerhalb des Programms.

Die Kinder der Montessori-Schule brauchen die Post-Funktion, denn sie kooperieren in ihrem Projekt "Rasende Reporter" mit den Krullis, den gleichaltrigen Schülern der Karl-Krull-Schule. Die Krullis kommen auch aus Greifswald, sitzen aber in einem vier Kilometer entfernten Schulhaus. Die Distanz überwinden sie per E-Mail durchs Internet, das die kleine Elena als "einen großen Raum mit vielen Gängen und Nebenräumen" beschreibt.

In diesem großen Raum haben Projektleiterin Sabine Schweder und die Webdesigner ein virtuelles Klassenzimmer speziell fürs Projektlernen eingerichtet. Für die Medienpädagogin war es wichtig, ein für jede Schule handhabbares Lernsystem zu entwickeln - und so den "lebendigen und verständnisintensiven Projektunterricht überall möglich zu machen".

Wenn Schweder von Schola-21 berichtet, hört sich das gar nicht wie Schule an. "Unser Vorbild waren die Managementsysteme der Industrie", sagt sie. Und: "Wir wollten dem Projektlernen ein Gedächtnis geben." So weit ist es noch nicht. 286 Projekträume haben sich deutsche Schulen in Schola-21 bislang eingerichtet. Ziemlich wenig für die potenziell unendliche Zahl an Lernzimmern, die der Schola-Zentralrechner in Frankfurt bereithält. Aber für ein Jahr ist das schon nicht schlecht.

Die gute Botschaft von Schola-21 ist, dass das Internet in der Schule zurück ist. Nach hochfliegenden, aber nicht verwirklichten Plänen diverser Initiativen zur Jahrtausendwende, alle Schulen, womöglich sogar jeden Schüler ans Internet anzustöpseln, gibt es nun einen seriösen Ansatz: Das Medium bereitzustellen - und es mit Inhalt und einer sinnvollen pädagogischen Idee zu füllen. Die Medienkompetenz, eines der inflationär gebrauchten Schlagworte der letzten Jahre, steht dabei nicht im Zentrum. Der Anspruch geht darüber hinaus. Wolfgang Edelstein, ehemals Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und heimlicher Anstifter von Schola-21, verbindet mit der Verbreitung und Professionalisierung des Projektlernens eine neue Rolle der Lehrer. Wie sie es mit dem Rohrstock Mitte des vergangenen Jahrhunderts getan haben, sollen die Pädagogen nun ihre Chefattitüde ablegen. Schluss mit dem Pauker im Lehrer. Oder, wie Kathrin Wöller, Lehrerin der Schola-Schule Karl Krull sagt: "In unserer Gruppe ist der frontale Aspekt des Lernens völlig beiseite getreten."

Kinderkrankheiten gibt es natürlich noch. Der eine oder andere Schola-21-Surfer moniert das textlastige Programm, das man durchsteigen muss, um endlich in Chaträume und zur Datenbank vorzudringen.

Und auch alle Inhalte, etwa beim Rasenden Reporter, sind noch nicht rund. "Die Interviewten angucken und nicht unterbrechen", hat Fine, 8, beim Praxisseminar für kleine Reporter gelernt. Falsch, Fine! Angucken, ja. Aber auf keinen Fall zu lange quatschen lassen.

taz Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 14, 202 TAZ-Bericht CHRISTIAN FÜLLER



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0191.nf/text

GEW findet Kieler Bildungsreform gut - und blockiert sie
Kultusministerin Erdsiek-Rave will in Schleswig-Holstein maßgeschneiderte Lernpläne einführen. Lehrer werfen ihr Politbüromethoden vor
KIEL taz Wenn es nach Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) geht, wartet auf Schleswig-Holsteins Schüler bald ein Kulturschock. Die Lehrer sollen nicht mehr all ihre Schüler über einen Kamm scheren, sondern für jedes Kind einen maßgeschneiderten Lernplan entwerfen. Nach den Sommerferien soll es losgehen. "Das Fördern und Fordern des einzelnen Schülers kommt an unseren Schulen manchmal zu kurz", hat sie erkannt.

Der neue individuelle Masterplan beschreibt die Stärken und Schwächen jedes Kindes. Und hält fest, welche Fördermaßnahmen helfen können. Alle Beteiligten müssen das Papier unterschreiben. Mit einem Schulstempel wird es dann amtlich besiegelt. Jedes halbe Jahr von der dritten bis zur sechsten Klasse sollen die Akteure den Lernplan fortschreiben. Das neue Mittel, so lobt Erdsiek-Rave, "ist im Gegensatz zum Notenzeugnis nicht rückwärts gewandt, sondern richtet den Blick nach vorne". Der Wandel der Lehrerrolle von der Auslese hin zur persönlichen Beratung wirkt wie eine Blaupause aus dem Lehrbuch der Reformpädagogik. Die vermeintlich progressiven Kräfte an den Schulen, sollte man meinen, müssten froh sein. Sind sie aber nicht.

Sinnvolles Hilfsmittel
"Natürlich wissen wir nicht erst seit Pisa, dass wir neue Instrumente der pädagogischen Diagnose brauchen", sagt etwa Bernd Schauer, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Schleswig-Holstein. "Persönliche Lernpläne, die Schüler, Eltern und Lehrer schriftlich vereinbaren, könnten da ein gutes Hilfsmittel sein", findet er. Und trotzdem lehnt die GEW die Verordnung der Ministerin ab: zu bürokratisch und zu aufwendig, lautet ihr Verdikt. Zusätzliche Klassenkonferenzen und Lernplangespräche, so die GEW, seien bei der jetzigen Arbeitsbelastung der Lehrer unzumutbar. Dem Erlass will die Gewerkschaft nur zustimmen, wenn Lehrer die Lernpläne lediglich einmal im Schuljahr schreiben müssen - und das Land auf Halbjahreszeugnisse künftig ganz verzichtet.

Auch an der Basis regt sich Unmut. Das Kollegium der Integrierten Gesamtschule in Eckernförde etwa sah sich veranlasst, einen geharnischten Brief an die Kultusministerin zu veröffentlichen. Mit ungläubigem Entsetzen habe man den Erlass gelesen. Zwar habe Erdsiek-Rave Recht, wenn sie meine, dass eine stärkere individuelle Förderung jedes Schülers das dringendste Mittel sei, um den Unterricht qualitativ zu verbessern. "Das geht aber nur, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht."

Die Gesamtschullehrer machen eine simple Rechnung auf. Pro Kind brauche ein Lehrer gut drei Stunden, um einen Lernplan zu schreiben. Bei einer Klasse mit 26 Schülern mache das für zwei Pläne im Jahr insgesamt 156 Stunden Mehrarbeit aus. "Das entspricht einer Arbeitszeit von vier Wochen eines Angestellten. Das ist nicht mehr leistbar." Der Erlass der Ministerin könne nur Wirklichkeit werden, wenn die Rahmenbedingungen an den Schulen stimmen. Was das bedeutet, sagen die Gesamtschullehrer auch: Lerngruppen mit 15 Schülern und weniger Unterricht für die Pauker, 20 statt bisher 26 Stunden. Forderungen, die in dem chronisch klammen Schleswig-Holstein kaum umsetzbar sind.

Nicht allen Lehrern schmeckt das Vorgehen der Eckernförder Kollegen. Der Protest sei falsch, sagt ein Flensburger Pädagoge. Denn die Lernpläne böten die Chance, ein neues Lehrerbild zu entwickeln. Mit ihrer Hilfe könnten sich die Lehrer zu Beratern wandeln, die die Kinder mit ihren persönlichen Stärken und Schwächen fördern. "Mit ihrem Schreiben unterstützen die Eckernförder eine nörgelnde, konservative Lehrerschaft, die diesen Rollenwechsel einfach nicht möchte", meint er.

Gutwillige vergrätzt
Doch auch diese Gutwilligen hat die Ministerin vergrätzt. "Das Ministerium arbeitet wie ein Politbüro. Es gibt Direktiven von oben", schimpft er. Wie Lernpläne aussehen, wie oft sie anzufertigen sind, wer sie unterschreiben soll, all das sei penibel festgelegt. Die schriftliche Abzeichnung des Lernplans wirke wie eine polizeiliche Vorführung. Lehrer, Eltern und Schüler würden nicht ausreichend eingebunden. "Wenn Lehrer und Eltern da nicht mitspielen, werden die Lernpläne zum Flop. Und das, obwohl sie ja ein vernünftiger Ansatz zur Individualisierung sind", sagt der Pädagoge.

Im Kultusministerium hat man auf die harsche Kritik inzwischen reagiert. Nicht für jedes Kind, heißt es auf einmal, müsse man künftig zwingend ein Lernplan schreiben, sondern nur für besonders begabte und schwache Schüler. Wer in diese Kategorie fällt, sollen die Klassenkonferenzen selbst entscheiden. Von der Reform bliebe dann allerdings nur ein Torso übrig. "Damit besteht die Gefahr", bedauert da auch Gewerkschaftsfunktionär Schauer, "dass kaum noch eine Schule diese Lernpläne wirklich schreibt".

"MATTHIAS ANBUHL

taz Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 14, 161 TAZ-Bericht MATTHIAS ANBUHL



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0193.nf/text

projektlernen
Ein "Wurf nach vorn"
Als Projekt gilt heute beinahe jede Unternehmung. In der Pädagogik ist Projektarbeit als Idealtyp handlungsorientierten Lernens definiert. Das heißt: Schüler stellen eine konkrete Frage - und beginnen dann, reale Probleme zu lösen. Dahinter steht die Idee forschenden Lernens: Die Schüler erarbeiten sich das Wissen selbst.
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Obwohl das forschende Lernen in Gruppen in Reformschulen lange praktiziert wird, hat es sich nicht durchgesetzt. Regelschulen haben die Projektmethode nicht durchgängig in ihre Lernkultur integriert. Stattdessen werden Projekttage oft aus dem Unterricht gedrängt.
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Lateinisch bedeutet "Projekt" "Wurf nach vorn". Schüler, so Brandenburgs Bildungsminister Reiche beim Festakt von Schola-21, können sich mit Projekten "selbst nach vorn in die Zukunft werfen."" CIF

taz Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 14, 31 TAZ-Bericht CIF



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0192.nf/text

In Schweden Alltag
Was in Kiel gerade als "Lernplan" eingeführt wird, ist in Schweden Alltag jeder Schule. "Logbuch" oder "Planungsbuch" heißen dort Lernhefte, mit denen Lehrer den Fortschritt ihrer Schüler beobachten.
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Ab der ersten Klasse dokumentiert jedes Kind sein Lernen in dem Büchlein. Zunächst hilft die Lehrerin, die jeweiligen Aufgaben einzutragen. Je älter die Schüler werden, umso selbstständiger bestimmen sie, mit welchen Übungen und Paukeinheiten sie die Lernziele erreichen wollen. Eltern haben Einblick in das Lernheft. Hin und wieder müssen auch sie, die Eltern, darin Aufgaben lösen.
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Der Unterschied zwischen Kiel und Schweden: Kein Bildungsminister käme dort auf die Idee, die Form des Lernheftes vorzuschreiben. Und kein Lehrer würde dafür Stundenermäßigung fordern. "CIF

taz Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 14, 31 Zeilen (TAZ-Bericht), CIF



http://www.taz.de/pt/2003/05/21/a0142.nf/text

SCHLESWIG-HOLSTEIN: FÜR REALPOLITIK WIRD ES LANGSAM ZEIT
Schule muss nicht wehtun
Revolution, so sagt eine gängige Definition, sei dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Eine Reform wäre dann wohl, wenn sich Oben und Unten gemeinsam verändern. Wie aber soll man das bezeichnen, was sich gerade in Schleswig-Holsteins Schulen zuträgt? Die oben (die Ministerin) und die unten (die Lehrer und die Gewerkschaft) wollen unbedingt die Bildung im Land verbessern. Sie wollen auch beide das Gleiche, nämlich "individuelle Lernpläne" - und trotzdem kommt es zu keiner Einigung.

Die Idee dieser Lernpläne kommt natürlich aus Schweden. Wer dort Klassen besucht, wird schon bei Abc-Schützen kleine, unauffällige Schulhefte entdecken. Ihre Seiten sind nicht weiß oder kariert, sondern nach Art von Formblättern vorbedruckt. Alle Beteiligten von Schule schreiben dort hinein, was und vor allem wie gelernt wird: Lehrer, Eltern und Schüler. Was da ganz unbefangen benutzt wird, sind "individuelle Lernpläne". Nur würde keinem einfallen, einen so protzigen pädagogischen Begriff für das Selbstverständliche zu verwenden. Niemand nennt die Heftchen so. Weil sie einfach so alltäglich und so sinnvoll sind.

Eine solche Leichtigkeit des Schuldaseins aber ist hierzulande unerträglich. Schule soll offenbar eine staatliche Veranstaltung sein, die wehtut. Also pochen die Schulbehörden auf das, was Max Weber die "bürokratische Herrschaft" genannt hat: Befehl und Gehorsam, alles schriftlich fixiert und gerichtlich überprüfbar. So werden aus simplen schwedischen Lerntagebüchern plötzlich amtliche "Lernpläne" - gegen deren offiziösen Charakter sich das Schulpersonal prompt wehrt. Zu diesem Zweck fordern die LehrerInnen Arbeitszeitermäßigungen. Und im Notfall drohen sie mit dem so genannten Dienst nach Vorschrift, also einer Blockade der Reform.

Vielleicht sollten wir mal nicht nach Schweden schauen und nicht nach Klassikern wie Weber greifen. Sondern einfach das deutsche "Schwarzer-Peter-Spiel" aufgeben - und sinnvolle Dinge auch dann tun, wenn sie keinen Amtsstempel tragen.

CHRISTIAN FÜLLER

taz Nr. 7059 vom 21.5.2003, Seite 12, 46 Kommentar CHRISTIAN FÜLLER



http://www.mopo.de/nachrichten/101_politik_36477.html

SCHULE | 21.05.2003

Schulgesetz Eltern ausgetrickst
SANDRA SCHÄFER

Empörter Brief an Ole von Beust »Unverschämt und undemokratisch«

Hamburgs Eltern fühlen sich für dumm verkauft: Zwei Stunden lang brachten rund 200 Elternvertreter am Montagabend ihre Kritik am neuen Schulgesetz im Schulausschuss vor. Doch CDU, Schill-Partei und FDP winkten das Gesetz im Anschluss durch, ohne auf die Eltern einzugehen. SPD und GAL verließen protestierend die Sitzung.

"Was von Eltern hier engagiert vorgebracht wurde, hat bei der Entscheidung zum Schulgesetz keine Rolle mehr gespielt", so Sabine Bick von der Elternkammer. Sabine Boeddinghaus vom Elternverein: "Einige Eltern waren zum ersten Mal auf einem solchen Termin, viele haben sich in das Gesetz eingearbeitet und einige mussten sich extra einen Babysitter besorgen. Und dann stellten sie fest, dass sie überhaupt nicht ernst genommen werden." Das sei wie ein Schlag ins Gesicht.

Der Elternverein hat nun einen offenen Brief an Bürgermeister Ole von Beust (CDU) geschrieben. Darin ist die Rede von "Volksverdummung". Der Bürgermeister wird aufgefordert, "dem Ausschussvorsitzenden Wolfgang Drews (CDU) ausdrücklich klar zu machen, dass dieser ignorante Umgang mit der öffentlichen Meinung von Hamburgs Bürgern nicht hingenommen wird."

Für den schulpolitischen Sprecher der FDP, Martin Woestmeyer, ist die Opposition am Debakel schuld. Es sei von vornherein klar gewesen, dass sich am Schulgesetz nichts mehr ändern würde. "Die SPD hat den Eltern vorgegaukelt, durch diese Anhörung könnte noch etwas bewegt werden." Tatsächlich aber sei der Zeitplan für die Verabschiedung des Gesetzes so eng, dass am Montag eine abschließende Beratung notwendig war, "sonst hätten wir das Schulgesetz vor der Sommerpause nicht mehr verabschieden können."

Sabine Boeddinghaus hält dagegen: "Man hätte uns schon viel früher anhören können und nicht erst auf Druck der Opposition und dann so kurz vor Toresschluss."



http://www.sueddeutsche.de/sz/politik/red-artikel6630/

Ausbildungsabgabe soll 5000 Euro betragen

Von Andreas Hoffmann

und Susanne Höll

Berlin - Die Pläne der rot-grünen Bundesregierung für die Ausbildungsabgabe werden konkreter. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung aus Regierungskreisen soll die Abgabe bei 5000 Euro pro Jahr liegen. Dies ergibt sich aus internen Beispielrechnungen der Koalition. Den Plänen zufolge soll jedes Unternehmen zahlen, das in der Belegschaft weniger als sechs Prozent Lehrlinge hat. Noch ist aber offen, ob die Abgabe tatsächlich erhoben wird. In ihrem Leitantrag für den SPD-Sonderparteitag schlagen die Genossen ein besonderen Weg vor. Falls gegen Ende September viele Jugendliche keine Lehrstelle haben, soll die Wirtschaft "verbindlich erklären, dass sie einen Fonds zur Finanzierung der fehlenden Ausbildungsplätze einrichtet", heißt es. So sollen unversorgte Jugendliche bis Jahresende noch eine Lehrstelle erhalten. Sollte die Wirtschaft "nicht einer freiwilligen und verbindlichen Regelung zustimmen", will die SPD zeitgleich ein Gesetz einbringen und "die Schaffung des Fonds gesetzlich festlegen". Daraus sollen vor allem betriebliche Lehrstellen finanziert werden.

Nach SZ-Informationen gibt es in der Regierung große Vorbehalte gegen die Abgabe. Insbesondere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) lehnt sie ab, weil er einen hohen Aufwand befürchtet. Auch Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hat Vorbehalte. Insofern gehe es jetzt darum, dem linken Flügel Zugeständnisse zu geben, die der Wirtschaft nicht zu weh tun, hieß es in den Kreisen: "Da ist viel Symbolik im Spiel." Die Wirtschaft hält die Pläne für "unverantwortlich", wie Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte. Nun würden viele Firmen ihr "Engagement für zusätzliche Lehrstellen erst einmal zurückstellen".



http://www.sueddeutsche.de/sz/bayern/red-artikel6769/

Klassenweise kluge Köpfe

Bald könnte es Internate für hochbegabte Gymnasiasten geben

Neues verkündet nur die Kultusministerin. Wer sich daran nicht hält, bekommt es mit Monika Hohlmeier persönlich zu tun. Verbandschefs, die Details aus wichtigen Kommissionen heraustragen, wurden schon die Leviten gelesen. Die Nachrichtensperre gilt erst recht für ihr eigenes Haus. Ab und zu kommt es aber doch vor, dass sich ein Ministerialer verplappert. Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing kündigte am Montag Ministerialrat Adolf Präbst an, dass es in Bayern demnächst auch Angebote zur Förderung hochbegabter Gymnasiasten geben werde. Von sechs staatlichen Internaten sprach er. Drei im Norden und drei im Süden. Auch davon, dass man wohl damit schon im Schuljahr 2004/2005 beginnen werde.

"Eliteförderung im Schatten von Pisa" hieß die Tagung. Natürlich waren die üblichen Vertreter der Schulen geladen. Im Publikum saß aber auch dpa-Journalist, und der notierte nun die Neuerung: dass es neben dem Elitenetzwerk für Studenten und Doktoranden auch eines für Schüler geben soll. Im Ministerium war man nicht begeistert und gab sich etwas wortkarg: Einzelne Internate könnten eine Rolle spielen. Könnten aber auch nicht. Nichts sei gewiss, nur dass Konzepte entwickelt worden seien, die man zu einem Gesamtkonzept zusammenfassen wolle, um sie möglichst noch vor der Sommerpause dem Ministerrat vorzulegen. Das alles sei natürlich in Absprache mit den Schulen geschehen.

Max Schmidt wusste davon nichts. Sonst hätte der Chef der bayerischen Philologen wohl nicht in Tutzing die Frage gestellt, ob denn daran gedacht sei, in das neue Elitenetzwerk der Staatsregierung auch Schüler einzubeziehen. In den "Empfehlungen zur Etablierung, Organisation und Finanzierung eines Elitenetzwerks" steht nämlich bislang nur ein kurzer Abschnitt zu den Schulen. Darin ist lediglich von einer Vernetzung mit den bereits vorhandenen "Fördermechanismen und Angeboten für hoch begabte Kinder" in Bayern die Rede. Dazu zählen Pluskurse, die Lehrer auf freiwilliger Basis für besonders Begabte der Klassen neun bis elf bereits anbieten können, ebenso die Möglichkeit, Klassen zu überspringen oder an Wettbewerben teilzunehmen. Als feste Einrichtung gibt es in Bayern jedoch lediglich zwei Förderklassen für Hochbegabte: am Münchner Maria-Theresia-Gymnasium und am Würzburger Deutschhaus-Gymnasium.

Elitekurse an staatlichen Internaten - eine neue Variante, die Lehrer und Eltern durchaus begrüßen würden. Zumal man sich für das Eliteprogramm, das ebenfalls Kontakte zur Wirtschaft und Auslandsaufenthalte vorsieht, in der fünften, siebten und neunten Klasse einschreiben kann. Die Sache hat den Haken, dass es eine überschaubare Zahl von sechs Versuchsschulen geben soll: "Nicht schon wieder nur eine Handvoll Schulen", kritisierte der stellvertretende Chef der Landeselternvereinigung bayerischer Gymnasien, Peter Röhmisch, auf der Tutzinger Tagung. "Diese besondere Förderung müssen doch mehr Schulen anbieten. "


Christine Burtscheidt



http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/deutschland/?cnt=216309

Lebenslanges Lernen gegen den alten Trott

Bei einer Tagung der IG Metall diskutierten Betriebsräte, was die Arbeitswelt für ältere Beschäftigte attraktiv machen könnte

Von Hans Dembowski (Frankfurt a. M.)

Klaus Zwickel übt Selbstkritik. Laut ihrem Chef hat die IG Metall bisher nicht hinreichend geklärt, "wie wir der Herausforderung des demografischen Wandels begegnen wollen". Nötig seien "neue Leitbilder", sagte Zwickel am Dienstag in Frankfurt bei einer Konferenz von Betriebsräten aus der Automobilindustrie. Dabei gehe es beispielsweise um "aktives und gesundes Altwerden in der Arbeit".

Nicht zuletzt mit der Zustimmung Zwickels hat sich in Deutschland eine ganz andere Praxis etabliert. Zur Norm wurde das frühzeitige Ausscheiden aus dem Beruf. Im Schnitt gehen Bundesbürger heute mit 61 Jahren in die Rente. Nur 38 Prozent der 55- bis 64-Jährigen sind erwerbstätig.

Aus der heutigen Sicht des Spitzen-Metallers setzten alle zu sehr "auf scheinbar sozialverträgliche" Lösungen. Viele Beschäftigte waren bereit, aus anstrengenden Jobs auszusteigen - und Manager orientierten sich am Ziel möglichst junger und belastbarer Belegschaften. Das ging freilich zu Lasten der Sozialversicherungen. Hohe Lohnnebenkosten wiederum gelten als eine Ursache der hartnäckig hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat angekündigt, durch sozialpolitische Reformen die Grundlagen für mehr Beschäftigung zu schaffen. Seine heftig umstrittene Agenda 2010 sieht unter anderem vor, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Menschen auf höchstens 18 Monate zu begrenzen. Auch ist im Gespräch, das offizielle Rentenalter auf 67 Jahre zu heben.

Die IG Metall protestiert dagegen. Zwickel moniert, diese Linie laufe auf den "alten Trott der immer weitergehenden Einschnitte in das soziale Netz" hinaus. Allerdings sagt auch der Spitzenmetaller, es sei "kein Tabu", darauf hin zu arbeiten, dass künftig tatsächliches und offizielles Rentenalter näher beieinander lägen.

Wie ist es zu schaffen, dass mehr Menschen länger berufstätig bleiben? Laut Zwickel ist zweierlei nötig: erstens genügend Arbeitsplätze, zweitens Arbeitsbedingungen, "bei denen die Kollegen nicht kaputt gemacht werden" - ein "Betätigungsfeld für gewerkschaftliche Ideen". Bei der Betriebsrätetagung kristallisierten sich zwei Aspekte als besonders wichtig heraus: "lebenslanges Lernen" und bessere Einsatzmöglichkeiten für in ihrer Leistungskraft beeinträchtigte Beschäftigte.

Belegschaftsvertreter Heiko Spieker aus dem Volkswagen-Werk Hannover berichtete, dort hätten Wissenschaftler untersucht, welche Beschäftigten aus welchen Gründen besonders lange in der Produktion einsetzbar blieben. Ergebnis: Häufiger Jobwechsel erhält tendenziell die Arbeitskraft - und zwar selbst dann, wenn die Beschäftigten gegen ihren Willen vor neue Aufgaben gestellt wurden. Das, so Spieker, liege unter anderem daran, dass ungewohnte Anforderungen die Lernfähigkeit trainieren. Zum Zweiten aber erzählten viele der Altgedienten, sie hätten im Nachhinein begriffen, dass sie ihre Stelle gerade rechtzeitig gewechselt hätten - nämlich ehe sich schlechte Befindlichkeiten zu handfesten Krankheiten entwickeln konnten.

Die IG Metall will nun Erfahrungen auch aus anderen Branchen sammeln, um Konzepte und Forderungen zu erarbeiten. Mittelfristig - so die Fachleute - werden auch die Manager solche Instrumente brauchen. Denn so wie die deutsche Gesellschaft altern auch die Belegschaften - und von deren Leistungsfähigkeit hängt die Wettbewerbskraft der Firmen ab.


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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 20.05.2003 um 19:32:22 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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LANGFASSUNG
Die Agenda 2010 ist das Ergebnis von Mutlosigkeit und Anpassung

Zum Konflikt zwischen Gewerkschaften und SPD / Klaus Lang benennt die Ursachen und skizziert Kompromisslinien

1. Ein lang schwelender Konflikt

Das Verhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften ist schwer belastet - wie noch nie nach 1945. Der Konflikt, aktuell zugespitzt an der Agenda 2010, der zum neuen sozialdemokratischen Programm hochgespielten Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003, hat tiefer gehende Wurzeln.

In der Kontroverse um die Agenda 2010 kommt ein längst schwelender Konflikt zum Ausbruch, der allerdings nicht nur zwischen SPD und Gewerkschaften, sondern auch innerhalb der SPD stattfindet. Seine Wurzeln reichen weit vor die Regierungsübernahme durch Rot-Grün im Oktober 1998 zurück. Er bezieht sich keineswegs auf alle Politikbereiche, sondern nahezu ausschließlich auf die Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die Bildungs-, die Gleichstellungs-, die Familien-, die Zuwanderungs-, die Außen- und die Kulturpolitik sind davon kaum betroffen. Nicht von ungefähr haben die Wahlstrategen der SPD im "Regierungsprogramms 2002" die Fortschritte, die unter Rot-Grün erreicht worden sind, und die tief-greifenden Unterschiede zu den Unionsparteien in diesen Bereichen betont.

Hintergrund für die aktuelle Entfremdung zwischen SPD und Gewerkschaften ist, dass sich die soziale Basis der in den Gewerkschaften und in der SPD Aktiven über Jahrzehnte hinweg langsam aber stetig auseinander entwickelt hat. Das liegt auch daran, dass die SPD in ihrer Mitgliedschaft und bei den Aktiven den gesellschaftlichen Wandel weitgehend nachvollzogen hat, die Gewerkschaften aber kaum. Gewerkschaftlich organisierte Aktive in den Betrieben und Verwaltungen, die vorwiegend aus den Arbeiter - Bereichen der (Groß-) Industrie und des öffentlichen Dienstes kommen, spielen in der SPD eine immer geringere Rolle. Die praktische Bedeutung der Gewerkschaftszugehörigkeit eines großen Teils der Bundestagsfraktion und vieler SPD - Funktionäre schwindet. Und umgekehrt gilt: In den Gewerkschaften sind immer weniger SPD-Mandatsträgerinnen und -träger aktiv. Anfang der 70er Jahre hat der SPD - Parteivorstand, insbesondere auf Drängen Herbert Wehners, auf die absehbare Entwicklung mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) reagiert, um den Einfluss der "Betriebstätigen" in der SPD zu sichern. In den Regierungen Brandt und Schmidt waren mit Walter Arendt, Georg Leber, Herbert Ehrenberg und Helmut Rohde noch Gewerkschafter und AfA-Vorsitzende an heraus-ragender Stelle vertreten. Und Willy Brandt hat mit der Gründung des Gewerkschaftsrates versucht, das Beziehungsgeflecht zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu stärken. Heute spielen AfA und Gewerkschaftsrat eine marginale Rolle.

Aber den Prozess der Auseinanderentwicklung hat das letztlich nicht aufhalten, sondern bestenfalls verlangsamen können. In der Schlussphase der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmid gab es 1981 Konflikte zwischen Regierung und Gewerkschaften um die Finanz- und Steuerpolitik sowie um die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die durchaus mit den aktuellen Auseinandersetzungen vergleichbar sind.

Doch die Frage, ob es eine praktisch-politische Übereinstimmung zwischen Gewerkschaften und einer SPD-geführten Regierung in der Haushalts- und Finanzpolitik, in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik angesichts steigender Staatsschulden und wachsender Arbeitslosigkeit, zunehmender Strukturprobleme auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen gibt, musste wegen des Regierungswechsels 1982 nicht mehr beantwortet werden. In den dann folgenden 16 Jahren Opposition gab es eine eher leicht erzielbare Übereinstimmung zwischen SPD und Gewerkschaften in den politischen Konzepten zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, die allerdings nie dem Härtetest einer SPD - Regierungsverantwortung unterworfen war.

2.Die Agenda 2010 - der Bruch von Wahlversprechen und Kanzlerzusagen

Die Gewerkschaften haben 1998 ein rot-grünes Reformprojekt gefordert und geför-dert. Sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft, ökologisch orientierte Investitionsprogramme, Arbeitsumverteilung zur Verringerung der Massenarbeitslosigkeit und grundlegende Veränderungen bzw. Erweiterungen in den Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme hin zu Steuerfinanzierung und Grundsicherung lauteten die Stichpunkte für den erwarteten Politikwechsel. Stattdessen haben die Gewerkschaften zwar wichtige Gesetze in ihrem Interesse, aber keinen neuen Strategierahmen der Politik bekommen, wie er mit "Innovation und Gerechtigkeit" angekündigt war.

Zu Beginn jeder der beiden rot-grünen Legislaturperiode gab es neben haarsträu-benden handwerklichen Fehlern und Widersprüchlichkeiten, auch Entgegenkommen gegenüber den Gewerkschaften: 1998 real, 2002 nur noch verbal, als Reaktion auf den Druck und die Wahlkampfunterstützung von Seiten der Gewerkschaften. 1998 waren es die so genannten "Rücknahmegesetze", die die Einschränkungen von Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz, mehr Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung und den geringeren Anstieg der Rente wieder aufhoben. 2002 war es die Debatte um die höhere Erbschafts- und Vermögenssteuer, um eine höhere Beitragsbemessungsgrenze und die Ausweitung der anzurechnenden Einkommen in der Krankenversicherung: zumeist Themen oder Vorschläge, die erst hochgespielt und dann wieder einkassiert wurden. Die realen politischen Akzente wurden in Kernbereichen der Politik - steuerpolitisch durch die weitere Entlastung der Unternehmen und massive Senkung des Spitzensteuersatzes, in der Rentenpolitik durch die Einführung einer kapitalgedeckten, privaten Rente, und in der Arbeitsmarktpolitik durch das Job-Aqtiv-Gesetz - in grundsätzlich gleicher Richtung gesetzt, wie es Helmut Kohl und die Unionsparteien gern gewollt hätten, wenn auch mit einem gewissen sozialen Korrektiv. Von sozialdemokratischer Handschrift blieb somit nur wenig übrig. Zusätzlich wurde eine rigorose Spar- und Konsolidierungspolitik zum neuen Markenzeichen sozialdemokratischer Politik.


In der "Agenda 2010" werden jetzt die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Weichenstellungen in dieser Richtung weiter zugespitzt und konkretisiert. Nicht verwunderlich, dass dabei die "Rücknahmegesetze" vom Dezember 1998 schrittweise wieder auf der Strecke bleiben sollen, wie jetzt z.B. beim Kündigungsschutz.
Die Gewerkschaften lehnen wesentliche Punkte der Agenda 2010 zunächst deshalb ab, weil sie den Bruch von Wahlversprechen bedeuten und Kanzlerzusagen wider-sprechen. Dabei geht es nicht um Petitessen oder Peanuts, sondern um gravierende Punkte, die deshalb auf Seiten der Gewerkschaften auch Ursache von Verhärtung und Verbitterung auf Seiten der Gewerkschaften sind. Ich will das beispielhaft an drei

Punkten benennen:

-Auf dem Zukunftskongress der IG Metall in Leipzig hat der Bundeskanzler am 15.6.2002 zugesagt, dass die Arbeitslosenhilfe nicht auf das materielle Niveau der Sozialhilfe abgesenkt werden soll. Und wörtlich ist im "Regierungsprogramm 2002 - 2006 formuliert: "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." In der Regierungserklärung vom 14.03.2003 wird das genaue Gegenteil verkündet.

-Gerhard Schröder hat eindeutig versprochen und einleuchtend begründet, dass bei der Gesundheitsreform das Schema der Rentenreform, nämlich eine Teilprivatisierung der sozialen Sicherung allein zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht wiederholt werden wird. Es soll auf jeden Fall bei der paritätischen Finanzierung der Leistungen der Krankenversicherung im bisherigen Umfang bleiben. Gerhard Schröder hat dies plausibel mit dem Unterschied zwischen Alter und Krankheit begründet: Alter sei ein vorhersehbares Ereignis, für das man ein Leben lang vorsorgen kann, Krankheit sei ein unvorhersehbares Ereignis für das der Einzelne nicht vorsorgen kann. Nun wird gerade das durch längere Krankheit verursachte Risiko, das durch das Krankengeld abgedeckt werden soll, allein den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgebürdet.

-Gerhard Schröder hat wiederholt Male versichert, dass mit ihm eine Einschränkung der Tarifautonomie, eine Änderung bei Günstigkeitsprinzip und Tarifvorrang nie und nimmer in Frage komme. Auch nur eine Drohung mit einer Gesetzesregelung, wie sie in der Regierungserklärung vom 14.03.2003 formuliert ist, verstößt gegen diese klaren Aussagen.

Wahlversprechen und Kanzlerzusagen sind nicht nur eine Parteiangelegenheit, sondern werden gegenüber Wählerinnen und Wählern gemacht. Unabhängig davon, dass wir die Maßnahmen der Agenda 2010 inhaltlich für falsch halten - es ist der Demokratie abträglich, wenn sich eine Regierung einfach über Versprechen und Zusagen hinwegsetzt. Und es ist kennzeichnend für die Medien und die politische Kultur in Deutschland, dass dieser Sachverhalt kaum thematisiert wird. Mehr als fragwürdig ist auch, eine Regierungserklärung mit der Abkehr von Versprechen und dem Widerruf von Zusagen zu formulieren - und von den Abgeordneten der Regierungskoalitionen dann deren "1:1" - Umsetzung zu verlangen. Regierungspolitik als permanente Androhung mit der Vertrauensfrage zu betreiben, ist eine Gefährdung der parlamentarischen Demokratie und zeugt von einem vordemokratischen Parlamentsverständnis.

Nicht jene, die dieses Vorgehen nach Form und Inhalt kritisieren, gefährden die Regierungsfähigkeit der SPD, sondern jene, die Partei und Fraktion in diese Situation zwingen. Damit mag Schröder zwar kurzfristig Erfolg haben, aber gerade dadurch wird auf mittlere Sicht die Regierungsfähigkeit und die politische Substanz der SPD zerstört. Denn zum einen ist keine mobilisierungsfähige Partei mit engagierten Funktionären und Mitgliedern mehr vorhanden und zum anderen fehlen die identitätsstiftenden Inhalte. Die "Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg" hat nach den Landtagswahlen vom 2.Februar 2003 formuliert: "Niemand zieht für die Hartz-Kommission in den Wahlkampf" . Das gilt auch und erst recht für die Agenda 2010.

3.Die Agenda 2010 - Ergebnis von falschen ökonomischer und politischen Analysen

Die Gewerkschaften lehnen wesentliche Punkte der Agenda 2010 vor allem deshalb ab, weil sie kein Pfad zu mehr Wachstum und Beschäftigung sowie zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme sind. Sie drohen für sich genommen zu noch mehr Arbeitslosigkeit und einer weiteren Destabilisierung der sozialen Sicherungssysteme zu führen. So ergeben z.B. Berechnungen des DIW den Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen durch die Auswirkungen der Agenda 2010 . DIW-Präsident Zimmermann, beileibe kein Gewerkschaftsfreund, stellt fest, dass die "Strukturreformen" der Agenda 2010 sich zunächst als weitere Belastungen für den Arbeitsmarkt auswirken werden. Sie stellen Druck auf Arbeitslose, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf Kranke dar und schränken die Einkommen ein, die unmittelbar konsumtiv wirken, weil ihrer Bezieher kaum Spielraum zum Sparen haben .

Die Agenda 2010 ist nicht der Ausdruck von "Mut zur Veränderung", sondern Ergebnis von Mutlosigkeit und Anpassung. Denn in der Agenda 2010 ist kein einziger origineller Gedanke, der wirklich sozialdemokratischem Profil entspräche. Die Agenda 2010 ist zufällig und beliebig. Sie greift auf die Themen und die Richtung zurück, die seit Jahren von den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden sowie den Unionsparteien und der FDP gefordert werden. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Senkung der Arbeitslosenhilfe, der Wegfall aller Zumutbarkeitsregelungen, mehr Druck auf Arbeitslose, mehr Eigenbeteiligung und Eigenleistung in den Sozialversicherungen - das alles sind alte Hüte, die dem Mainstream der veröffentlichten Meinung, der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände seit Jahren entsprechen.


Die Agenda 2010 gehen auf eine falsche Analyse der ökonomischen Ursachen für Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit in Deutschland zurück. Die wichtigsten Elemente der falschen Analyse sind, dass Wachstum und Beschäftigung durch zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten, zu hohe Steuer- und Abgabenlasten und eine zu starre Regulierung des Arbeitsmarktes gebremst würden.
Gegen die erste Behauptung sprechen die ungebrochenen Exporterfolge der deutschen Wirtschaft (die auch jetzt wieder den Absturz in die Rezession verhindern) und der tatsächliche Rückgang der Lohnstückkosten, die auch die Lohnnebenkosten einschließen. Die Steuerbelastung der Unternehmen ist in 16 Jahren Kohl kontinuierlich zurückgegangen. Das Bundesfinanzministerium selbst hat vor kurzem ausgewiesen, dass die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland laut OECD-Statistik in der unteren Hälfte vergleichbarer Länder liegt. Zu weniger Arbeitslosigkeit hat das nicht geführt.

Richtig an der zweiten Behauptung ist, dass die Arbeitseinkommen durch Abgaben relativ hoch belastet sind. Das wird aber durch die Agenda 2010 nur einseitig zu Lasten der Beschäftigten angegangen. Deshalb ist es besonders ärgerlich, wenn Gerhard Schröder aktuell die Agenda 2010 mit der notwendigen Senkung der Abgabenlasten für Arbeitgeber und Beschäftigte begründet , aber systematisch verschweigt, dass dies nur für die Arbeitgeber gilt. Die Arbeitnehmer werden hingegen z.B. durch die geplante Gesundheitsreform durch höhere Zuzahlungen bis hin zur neuen Krankengeldversicherung stärker belastet werden als zuvor.

Zur dritten Behauptung: Die Arbeitsmärkte sind schrittweise dereguliert worden - Arbeitnehmerüberlassung, befristete Beschäftigung, Wegfall der Zumutbarkeit, Absenkung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Trotz dieser Deregulierung ist keine Besserung auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Weiß z.B. noch jemand, was das Mainzer Modell war und was es bewirkt hat?

Johannes Rau hat in einem Redemanuskript vor wenigen Wochen zutreffend formuliert: "Der Umbau der Sozialsysteme ist zwar notwendig, er wird die Massenarbeitslosigkeit nicht entscheidend senken. Wer das behauptet, der führt die Öffentlichkeit wider besseres Wissen in die Irre."

Diese unzutreffende ökonomische Analyse geht Hand in Hand mit einer falsche Sicht der politischen Ursachen für den dramatischen Rückgang der Zustimmung zu SPD und Regierung. Nachdem Rot-grün am 22.September 2002 noch einmal eine knappe Mehrheit bekommen hatte, war das Regierungshandeln von einem unerträglichen Hin und Her gekennzeichnet. Hickhack, Flickwerk und Stückwerk prägten den Regierungsalltag, nicht klare Linien, neue Ideen, konsequentes Handeln. Weder das Regierungsprogramm der SPD noch die Koalitionsvereinbarung wurden zu eindeutigen Orientierungspunkten für das Handeln Bundesregierung. Aber nicht dies, sondern die einseitige soziale Ausrichtung und die zu große Gewerkschaftsnähe wurden von Teilen der SPD selbst mehr und mehr als Grund für das Stimmungstief der Bundesregierung gesehen. Letzteres wurde durch eine gezielte Kampagne in manchen Medien verstärkt. Gerhard Schröder sah schließlich in der Distanzierung von den Gewerkschaften offenkundig seine Chance, größere Zustimmung in den Medien und bei den Unternehmern sowie den Verbänden der Wirtschaft zu bekommen.

Diese Tendenz wurde nach dem Ergebnis der Landtagswahlen am 2. Februar 2003 noch verschärft. Es wurde kaum registriert, dass im Kern weder in Hessen noch in Niedersachsen die CDU wirklich hinzu gewonnen, sondern vor allem die SPD katastrophal verloren hatte. In beiden Bundesländern schöpfte die CDU im historischen Vergleich ihr Wählerpotential keineswegs maximal aus, trotz der katastrophalen Performance der Bundesregierung sowie einem weitgehend unbekannten SPD-Spitzenkandidaten in dem einen und einem effekthascherischen und wankelmütigen SPD-Ministerpräsidenten in dem anderen Bundesland.

Gerhard Schröder sah die Ursache für die Wahlniederlagen und das Stimmungstief der SPD - so vor dem Vorstand der IG Metall am 10. Februar 2003 - nahezu aus-schließlich in der fehlenden wirtschaftlichen Kompetenz, weil die "soziale Kompetenz der SPD so und so zugeschrieben wird". Für den Versuch, den Fall ins Bodenlose nach den Landtags- und Kommunalwahlen im Februar 2003 zu stoppen, war somit der Weg hin zu einer Politik bereitet, die zwar nicht dazu führt, die wirtschaftliche Kompetenz zurück zugewinnen, aber dazu beiträgt, die soziale Kompetenz der SPD zusätzlich zu ruinieren. Das wird mit der Agenda 2010 bewirkt. Der entscheidende Punkt: Wirtschaftspolitische Kompetenz der SPD oder der Bundesregierung ist offensichtlich gleichbedeutend mit der teil- und schrittweisen Erfüllung der sozialpolitischen Forderungen der Wirtschaft (sowie der Opposition).

Die Agenda 2010 ist schließlich auch deshalb höchst problematisch, weil sie den Nährboden und den Begründungszusammenhang für Schlimmeres schafft. Die Strategie Schröders setzt darauf, dass sich im Rahmen eines weltwirtschaftlichen Aufschwungs das Wirtschaftswachstum auch in Deutschland belebt und die Arbeitslosigkeit abnimmt. Dann können die an sich kontraproduktiven Maßnahmen als Grundlage dieser Entwicklung ausgegeben werden. Wenn aber - worauf momentan vieles hindeutet - diese Entwicklung ausbleibt und die Arbeitslosigkeit die 5-Millionen-Grenze erreicht und überschreitet, heißt es, den einmal eingeschlagenen falschen Weg selbstmörderisch fortzusetzen: Noch mehr Druck auf Arbeitslose, noch mehr Eigenbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den sozialen Sicherungssystemen, noch weniger Kündigungsschutz und Einschränkungen der Tarifautonomie! Die Geister, die jetzt gerufen wurden, wird man dann nicht los werden - gesetzt den Fall, man wollte es überhaupt!


4.Die Agenda 2010 - kein neues Godesberg sondern altes Flickwerk
Jetzt beginnt die Debatte darüber, dass die "Geschäftgrundlage" seit September 2002 sich geändert habe und die Agenda 2010 die notwendige Konsequenz daraus sei. Diese Aussage ist irreführend, weil in den ersten Monaten des Jahres 2003 nichts eingetreten ist, was z.B. von Gewerkschaften und anderen nicht schon im Spätherbst 2002 als Folge fortdauernder Konsolidierungspolitik und fehlender Investitionsimpulse prognostiziert worden ist. Das gilt für die anhaltende Wachstumsschwäche und für die lahmende Binnenkonjunktur ebenso wie für den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aber unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussage - wann und wo hat es nach dem 22. September, nach dem Jahreswechsel, vor dem sich ab-zeichnenden Irak-Krieg in der SPD und in der Öffentlichkeit einen vom SPD-Vorstand oder von der Bundesregierung initiierten Diskurs gegeben, der eine angebliche Änderung der Geschäftsgrundlage zum Thema gemacht hätte?

Aber nicht nur diese Debatte hat gefehlt: In der SPD gab es weder vor noch nach dem Regierungswechsel 1998 eine programmatische Diskussion über veränderte ökonomische, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für sozialdemokratischem Regierungshandeln zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die SPD hat es als Regierungspartei versäumt, der neoliberalen Hegemonie eine eigene programmatische Handlungsgrundlage in Form eines erneuerten Keynesianismus und einer europäischen Sozialstaatlichkeit gegenüber zu stellen. Auch an einer ernsthafte Debatte darüber, wie die Beziehungen zwischen einer regierenden SPD und den DGB-Gewerkschaften produktiv zu gestalten sind, mangelte es, auch weil sie von den Gewerkschaften nicht eingefordert wurde. Der spannende Diskurs in der SPD-Grundwertekommission wurde weder in der Partei ernst genommen noch mit Regierungshandeln verknüpft. In Zusammenhang mit der Agenda 2010 ist jetzt (u.a. von Wolfgang Clement) öfters von einem neuen "Godesberg" die Rede. Dieser Vergleich mit dem historischen Parteitag von 1959 ist aber völlig verkehrt: sowohl, was das Vorgehen angeht als auch was die Inhalte betrifft.

Anthony Giddens, der Vater und Vordenker des "dritten Weges", Ralf Dahrendorf und Ulrich Beck aber auch Claus Offe und Jürgen Habermas, Fritz Scharpf und Oskar Negt haben in den letzten Jahren durchaus interessante und wichtige Diskussionsanstöße zu den Fragen gegeben: Was ist der Sozialstaat heute? Was heißt heute soziale Gerechtigkeit? Welche Gruppen in der Gesellschaft sind von "Ausschluss" bedroht und müssen "eingeschlossen" werden? Was sind die politischen Aufgaben der Sozialdemokratie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert?

Mit dem Schröder-Blair-Papier von 1999, dem "Mitte-Papier" von Franz Müntefering vom Februar 2002 und dem Bundeskanzleramtspapier vom Dezember 2002 gab es Ansätze einer Debatte um politische Neuorientierung. Aber alle drei Papiere wurden nach kurzer, aber heftiger kritischer Diskussion innerhalb der SPD und bei den Gewerkschaften wieder aus dem Verkehr gezogen oder versanken im Stillschweigen. Tatsächlich waren sie weiter wirksam. Sie waren zwar zu keinem Zeitpunkt Gegenstand einer offenen programmatischen Diskussion in der SPD, belegen aber, dass das Regierungshandeln der SPD im Wesentlichen aus einer politischideologischen Quelle gespeist worden ist und wird, die nichts oder nur wenig mit dem noch geltenden SPD-Programm und kaum etwas mit den SPD-Wahl- bzw. Regierungsprogrammen sowie Koalitionsvereinbarungen zu tun hat.

Herbert Wehner hat in den 70er Jahren festgestellt: "Die Programmfähigkeit einer Partei ist die Voraussetzung für ihre Politikfähigkeit." Was damals gegen die Unionsparteien gemünzt war, richtet sich heute gegen die SPD. Denn anders als jetzt behauptet wird ist 1999 die Grundwertediskussion beendet und die Programmdiskussion in der SPD beerdigt worden. Es war der erklärte politische und strategische Wille Gerhard Schröders, vor der Bundestagswahl 2002 die Programmdebatte auszutrocknen und einschlafen zu lassen. Jetzt wird der Spieß umgedreht: Die Agenda 2010 ist nicht die politische Konkretisierung des Regierungshandelns als Ergebnis einer Programmdiskussion über Wirtschaft, Sozialstaat und Zivilgesellschaft, Solidarität, Arbeit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Dieses Sammelsurium von Rezepten aus dem Arsenal der Konservativen wird selbst zum neuen Programm hochgeredet. Eine fundierte Programmdebatte der SPD kann aber nicht mit dieser Erklärung der Regierung starten und mit einem "Basta-Diktat" des Parteivorsitzenden beendet werden, noch ehe sie begonnen hat.

Die SPD braucht in der Tat eine neue programmatische Diskussion. Das "Berliner Programm" ist nie wirklich von der Partei angenommen worden. Und es konnte auch in der Realität nicht ankommen, weil sich durch die deutsche Vereinigung, das Ende der bipolaren Weltordnung, die fortschreitende Globalisierung, den rasante technischen Wandel und neue Formen entstaatlichter Gewalt die Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Für die Richtung einer Programmdebatte hat Tobias Dürr richtig festgestellt: "Es darf aber für eine Sozialdemokratie, die ihre Zukunft noch erleben will, gerade nicht darum gehen, die sowieso schon Schwachen und Verängstigten zu verfolgen und weiter einzuschüchtern. Ein Land wie die Bundesrepublik würde dadurch nur in einem ökonomischen, sozialen und psychischen Verelendungszyklus gestürzt. " . Genau diesen Eindruck erweckt aber die Regierungserklärung Agenda 2010..


Wenn die SPD sich wirklich (wieder) als Partei der wirtschaftlichen Innovation, der gesellschaftlichen Modernisierung und der sozialen Gerechtigkeit profilieren will, muss sie zu Kompromissen bei der Agenda 2010 finden und jetzt eine Programmdebatte beginnen, die von der Agenda 2010 zu einer "Offensive 2010" der SPD führt. Deutschland braucht nicht nur ein staatliches Konjunkturprogramm, sondern ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Strukturprogramm für eine Zukunftsperspektive, einen "Vertrag für die Zukunft" wie Bündnis 90/Die Grünen ihr Wahlprogramm genannt haben. Die Agenda 2010 ist das sicher nicht, sondern ein Pakt aus der Vergangenheit.
5.Sozialdemokratische Perspektiven - Alternativen, Ergänzungen und Kompromisslinien

Es ist inhaltlich falsch und strategisch irreführend, wenn die Befürworter der Agenda 2010 behaupten, es gäbe keine Alternative zu ihrer Politik. Alternative Ansätze für ein politisches Handeln, das sozialdemokratisches Profil hat, sind benennbar:

-Ein sozial-ökologischen Investitionsprogramm in den Bereichen Solarenergie, Windenergie, Wärmedämmung, Verkehrseffizienz, Bildung, Gesundheit etc. ist der erste Ansatz. Er wird heute weder in der SPD noch bei Bündnis 90/Die Grünen diskutiert. Es bleibt ein wichtiger Punkt: Reale Investitionen, auch zu Lasten einer mäßig höheren Staatsverschuldung dürfen kein Tabu sein. Nicht nur die Zinsersparnisse, sondern ein wesentlicher Teil der UMTS-Erlöse selbst hätte für Investitionen und Innovationen verwendet werden müssen. Der DGB hat jetzt in seinem Alternativvorschlag die Notwendigkeit von Investitionen ins Zentrum gestellt . Es wäre richtig gewesen, diesen Weg schon 1998 zu beschreiten, anstatt nun dennoch das Scheitern des Konsolidierungskurs des Bundesfinanzministers, wie von den Gewerkschaften vorausgesagt, feststellen zu müssen.

-Das Konzept einer Erwerbstätigen- bzw. Bürgerversicherung mit einer breite-ren Einnahmebasis und einer stärkeren Steuerfinanzierung um die Beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu senken, wäre Mut zur Veränderung mit sozialdemokratischem Profil. Es wird zur Zeit nicht ernsthaft verfolgt. In der Begründung zum Rentenreformgesetz 2000 wurde noch verbindlich zugesagt, das Thema "Erwerbstätigenversicherung" in der nächsten Legislaturperiode 2002 bis 2006 aufzugreifen. Dies wäre ein wirklicher Modernisierungsschritt, weil er die Finanzierung der Alterssicherung vom Erwerbsleben entkoppeln und die größere Vielfalt von Erwerbsverläufen berücksichtigen würde. Auch die Einbeziehung aller Einkommensarten, natürlich mit einem Ziel der Beitragssenkung für alle, spielt in der operativen Politik keine Rolle. Dies würde die Einkommensbezieher treffen, bei denen sich mehr Steuern nicht negativ auf den Konsum auswirken. Mittlerweile fordern das "Berliner Netzwerk" und der "Seeheimer Kreis" einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme in diese Richtung. Die Führung der Partei setzt diese Anregungen nicht um - sie diskutiert sie nicht mal.

-Von einem Steuer- und Abgabenkonzept, das eine deutliche Entlastung der Arbeitseinkommen vorsieht und gleichzeitig die Gewinn- und Kapitaleinkünfte sowie Vermögen und Erbschaften stärker belastet, ist die SPD meilenweit entfernt. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Halle hat z.B. errechnet, dass eine Absenkung der Lohnnebenkosten um 46 Milliarden, Ergebnis aus den vorgenannten Steuern, 700.000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen könnte . Ein nachhaltiger Umbau der sozialen Sicherungssysteme (mit einem größeren steuerfinanzierten Anteil aus Vermögens-, Erbschafts- und Börsenumsatzsteuer und einer Beschränkung des Ehegattensplittings einerseits und ent-sprechend deutlichen Beitragssenkungen in den sozialen Sicherungssystemen andererseits) wäre ein wirklich sozialdemokratisches Projekt. Ein weiteres Element wäre die gesetzliche Verpflichtung zu einer betrieblichen Altersversorgung als zweite Säule, nicht nur für Großbetriebe, sondern besonders für kleinen und mittleren Unternehmen, mit dem Auftrag an die Tarifparteien, dies materiell auszufüllen und umzusetzen.

-Benchmarking ist ja nicht nur in den Betrieben, sondern auch in der Politik in Mode gekommen: Ein Blick auf Länder mit erfolgreicheren Arbeitsmarktpoliti-ken zeigt, dass Arbeitszeitfragen immer eine wichtige Rolle spielen, während sie in der Politik der SPD und der rot-grünen Bundesregierung überhaupt nicht mehr vorkommen. Ich denke hier nicht in erster Linie an die Änderung des Arbeitszeitgesetzes mit der Herabsetzung der gesetzlichen Regelarbeitszeit auf 40 Stunden und stärkere gesetzliche Verpflichtung zum Freizeitausgleich bei Mehrarbeit, obwohl auch das längst fällig und nützlich wäre. Aber ich denke z.B. daran, dass in Schweden Freistellungsansprüche und Elternzeit ganz entscheidende positive Beschäftigungseffekte haben; an den hohen Stellen-wert der Teilzeitarbeit in den Niederlanden und an die Möglichkeiten zur Förderung von Teilzeitarbeit in einem effektiven Dreieckgeschäft von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesregierung; an den systematischen Ausbau von Qualifizierungszeit und Job Rotation. Der Beschäftigungseffekt dieser Maßnahmen könnte den Arbeitsmarkt spürbar entlasten. Die Vorhaben einer rot-grünen Bundesregierung zur Verringerung der Arbeitslosigkeit kennen solche Ansätze nicht einmal mehr als Spurenelemente. Von Innovationen in Arbeitszeitfragen kann nicht mehr die Rede sein. Leider spielt dieses Thema auch im Reformkonzept des DGB nur eine beiläufige Rolle.

-Schließlich ist ein sozial- und arbeitsmarktpolitisches Konzept von Flexicurity erforderlich, wie es das WSI in der Hans Böckler Stiftung ausarbeitet. Nur wenn Sozialdemokraten die notwendigen Schritte zu einem aktivierenden Sozialstaat, zu mehr Flexibilität und Mobilität mit ebenfalls flexiblen und dynamischen Konzepten der sozialen Sicherung ergänzen, werden sie Zustimmung, in der Arbeitnehmerschaft finden. In diesem Rahmen lässt sich auch über eine Politik des "Forderns und Förderns" diskutieren, wenn beides in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander steht, z.B. in der Frage der Ausbildungsplätze. Wenn das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen nachweisbar genügend groß wäre, könnte auch über Verpflichtungselemente, das Angebot anzunehmen, gesprochen werden. Hier wird sich sehr bald zeigen, ob die Bundesregierung das "gesetzliche Handeln" in Sachen Ausbildungsplätze ernsthaft angeht. Im Fall der Arbeitslosigkeit ist schon heute praktisch kein Angebot zur Arbeit mehr "unzumutbar". Offenkundig bleibt doch das Problem bestehen, dass weder in den Betrieben und Verwaltungen noch in den Personalserviceagenturen (PSA) genügend Arbeitsplätze angeboten werden. Aber den Druck auf Arbeitslose ständig zu erhöhen, ohne die Verpflichtung von Unternehmen und Verwaltungen stärker zu verpflichten, Arbeits- und Ausbildungs-plätze anzubieten, diskreditiert eine Politik des "Forderns und Förderns" und ist in manchen ostdeutschen Regionen pervers.


Die Gewerkschaften müssen die notwendigen strategischen Ergänzungen und Alternativen zur Agenda 2010 klar benennen. Sie müssen darüber hinaus ausloten, ob SPD und Bundesregierung unabhängig von der "Basta-Haltung" kompromiss- und dialogfähig sind, um den Nachteil eines dauerhaften Gegeneinanders zwischen Gewerkschaften und SPD zumindest zu verringern. Ansätze für mögliche Korrekturen können konkret benannt werden:
- Beim Kündigungsschutz ist mit der von Wolfgang Clement angekündigten Be-fristung der Änderung unbedingt ernst zu machen. Außerdem wäre die Zahl der befristet Beschäftigten sowie der Leiharbeiter, die nicht auf das Quorum angerechnet werden, auf eng zu begrenzen. Sonst könnte der Kündigungsschutz doch noch aufgeweicht werden: Es darf nicht dazu kommen, dass mit fünf unbefristet Beschäftigten, aber 10, 15 oder 50 in Leiharbeit oder befristet Beschäftigte das Quorum des Kündigungsschutzes faktisch unterlaufen wird. Bei der Sozialauswahl wäre die gesetzliche Konkretisierung der Kriterien auf jeden Fall um eine Härteklausel zu ergänzen.

-Die erworbenen Ansprüche bei der Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu wahren, ist eine Selbstverständlichkeit, kein Zugeständnis. Verständigungsmöglichkeiten müssten an weitergehenden Punkten diskutiert werden: Die Kürzung der Bezugsdauer dürfte z.B. erst für Beschäftigte ab Geburtsjahrgang 1953 gelten, um die notwendige Zeit für den "Paradigmenwechsel" bei der Beschäftigung älterer Beschäftigter zu gewinnen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf Grund eines Konkurses arbeitslos werden, müssten von der Befristung ausgenommen werden, weil sie ja beim besten Willen nicht weiterbeschäftigt werden können. Und schließlich sind die arbeitsmarktpolitischen Weichen so zu stellen, das ältere Arbeitslose spätestens nach Ende der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vorrangig eine Beschäftigung zumindest in einer PSA angeboten bekommen. Das wäre in der Tat eines Politik des "Forderns und Förderns" anstatt des Drucks auf Arbeitslose.

-Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wäre es ein Gebot der politischen Redlichkeit, den Empfängern der Arbeitslosenhilfe auf jeden Fall einen materiellen Bestandsschutz für die Dauer diese Legislaturperiode zu geben.

-Keine Kompromissmöglichkeit besteht beim Krankengeld, da mit der gewollten Regelung die Begründungen für diesen Teil der Agenda 2010 noch einmal auf den Kopf gestellt werden: Es kommt kurz- und mittelfristig zu keinerlei Entlastung, sondern nur zu einer deutlich stärkeren Belastung der Versicherten - durch Krankengeldversicherung, höhere Zuzahlungen bei Medikamenten und höhere Eigenbeiträge bei medizinischen Leistungen.

6. Die Aufgaben der Gewerkschaften

Den Gewerkschaften wird Blockade- und Verweigerungshaltung unterstellt. Durch ihr öffentliches Auftreten erwecken sie momentan vielfach diesen Eindruck. Aber in Wirklichkeit gibt es genügen Beispiele für das Gegenteil: So haben die Gewerkschaften z.B. die Verlängerung des Gesetzes über befristete Beschäftigung hingenommen, auch wenn die Regierungskoalition es hätte auslaufen lassen können. Im Rahmen des "Bündnis für Arbeit" sind die Gewerkschaften beim JobAqutiv Gesetz mitgegangen, obwohl die dort konkretisierte Politik des "Forderns und Förderns" nicht ihren Wunschzielen entspricht. Die Gewerkschaften haben zum "Hartz-Konzept" grundsätzlich Ja gesagt - und für den "equalpay-Grundsatz" die weitgehende Deregulierung der Leiharbeit akzeptiert sowie durch entsprechende Tarifverträge eine flexible Anwendung des "equal-pay-Grundsatzes" ermöglicht.

Aber dennoch sind an der Entfremdung zwischen Gewerkschaften und SPD auch die Gewerkschaften nicht schuldlos. Denn auch sie haben einen großen Bedarf an programmatischer Neuorientierung mit praktisch-politischen Konsequenzen. Und sie müssen erkennen, dass auch die Sozialdemokratie in Regierungsverantwortung in anderen Entscheidungs- und Legitimationsnotwendigkeiten steht, als die SPD in Opposition. Ganz fremd dürfte eine ähnlich Erfahrung den Gewerkschaften eigentlich nicht sein, wenn sie einerseits Tarifforderungen als unbedingt sozial notwendig und wirtschaftlich machbar verteidigen, andererseits aber Tarifergebnisse als Erfolge, die sozial und wirtschaftlich angemessen sind, vertreten.

Es gab und gibt viele Versuche der Gewerkschaften, neue Antworten zu suchen und dem politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel gerecht zu werden. Aber die Ansätze einer programmatischen Neuorientierung sind z.T. weder konsequent und geschlossen noch mit genügend Breitenwirkung nach innen und nach außen verfolgt worden.

-Zu erinnern ist an die Debatte um und die Formulierung des neuen DGB-Grundsatzprogramms von 1996 zu denken. Das ist ein Dokument, das dem Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft, in (Produktions-)Technik und Arbeitsorganisation, Rechnung trägt. Aber das Programm ist öffentlich kaum wahrgenommen worden blieb für das Alltagshandeln der Gewerkschaften weitestgehend ohne Wirkung (öffentliche Wahrnehmung des Papiers).

-Zu verweisen ist auf die Zukunftsdebatte der IG Metall, die in Dauer und Intensität durchaus hätte Beispiel sein können für die im selben Zeitraum unterblie-bene Programmdebatte der SPD. Die Zukunftsdebatte der IG Metall war der Versuch, aufgrund der veränderten Bedingungen neue Antworten zu finden. Aber es ist mit der Zukunftsdebatte nicht ausreichend gelungen, die IG Metall als die gesellschaftliche Kraft zu präsentieren, die die Themen des Wandels offensiv aufgreift und darauf auch neue , originelle Antworten formuliert. Obwohl der Entwurf des Zukunftsmanifests "Offensive 2010" so gemeint war und auch so verstanden worden ist. Ein Grund für das ernüchternde Ergebnis ist, dass Kurs, Methoden und Ziele der Zukunftsdebatte in der eigenen Organisa-tion weder an der Basis insbesondere der hauptamtlichen Funktionäre noch an der Spitze der Organisation geschlossen und engagiert vertreten worden sind.


-Zu nennen ist schließlich das Bündnis für Arbeit. Seine Ergebnisse in der Le-gislaturperiode 1998 bis 2002 waren sicher alles andere als berauschend. Aber dennoch hat es die Tarifautonomie stabilisiert und den Gewerkschaften eine zusätzliche Bühne politischer Einflussnahme gegeben. Nach den Bundestagswahlen 2002 hat den Gewerkschaften die Kraft und die Bereitschaft gefehlt, ein eigenes Konzept für einen neuen, konstruktiven dreigliedrigen Dialog zwischen Regierung, Arbeitgeber- und Wirtschaftverbänden und Gewerkschaften vorzulegen. Sicher, das Bestreben von Gerhard Schröder sich nach der Bundestagswahl 2002 des Bündnisses für Arbeit zu entledigen, war unverkennbar. Aber er hatte mit der Absage an die Fessel "Bündnis" als Grundlage für die Eigenprofilierung mit der Agenda 2010 leichtes Spiel. Die jetzige Situation ohne Bündnis ist für die Gewerkschaften sicher nicht besser, weder bei der konkreten Einflussnahme, noch bei der Mobilisierung.
Nur mit grundsätzlichen Gestaltungsalternativen und pragmatischen Kompromissvorschlägen werden der DGB und die Gewerkschaften die veröffentlichte Meinung in ihrem Sinne beeinflussen und die Mitgliedschaft in ihrer ganzen Breite - möglichst auch die nicht organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - als engagierte Mitstreiter gewinnen. Ein Indiz dafür, wie wichtig eigene Reformvorstellungen sind, ist die - trotz z.T. scharfer inhaltlichen Kritik - durchweg positive Resonanz auf die Vorlage des DGB-Alternativprogramms zu der Agenda 2010 durch Michael Sommer Anfang Mai.

Die Gewerkschaften sind nicht weniger gefordert als die SPD, programmatische Debatten fortzuführen. Es geht z.B. darum, die Differenzierung in der Tarifpolitik als Voraussetzung für den Erhalt der Solidarität voranzutreiben. Für die Reform der sozialen Sicherungssysteme sind Optionen öffentlich zu machen, die der Kostenbegrenzung, Effizienzsteigerung und Beitragssenkung für jeden hörbar zumindest das gleiche Gewicht beimessen wie der Einnahmesteigerung. In der Sozialstaatsdebatte muss auch von den Gewerkschaften die doppelte Dimension der Solidarität als Verantwortung der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen und als Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft benannt und in konkrete politische Konsequenzen umgesetzt werden. Über Eigenverantwortung und Eigenleistung des Individuums in der Gesellschaft kann bei dem erreichten materiellen und sozialen Sicherungsniveau der weit überwiegenden Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch von den Gewerkschaften ganz anders nachgedacht werden, als zu Bismarcks Zeiten. Und schließlich gilt es die Rolle von innovativen Unternehmen, kreativem Management und engagierten Selbständigen auch von Seiten der Gewerkschaften positiv zu würdigen. Die Alternative vom Staat als besserem Unternehmer und sozialerem Arbeitgeber sollte als Zukunftsperspektive auch aus den Hinterköpfen gewerkschaftlichen Denkens gestrichen werden. Die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist schließlich, den Strukturwandel in der Arbeitnehmerschaft in der Mitgliedschaft nachzuvollziehen und sich in der öffentlichen Darstellung, in Programm und Praxis konsequent darauf auszurichten. Damit würden sich auch die Sichtweisen der Gewerkschaften der Vielfalt von Arbeits- und Lebenswelt annähern, die heute Realität ist.

7.Ausblick

Bleibt es bei diesem Konflikt, werden Gewerkschaften und SPD auf die Dauer verlieren: Die SPD verliert ihre traditionelle Basis, noch stärker als es in den Wahlergebnissen nach dem 22. September 2002 zum Ausdruck kam, ohne neue Wählerschichten dauerhaft an sich zu binden. Damit ist die SPD nicht mehr mehrheitsfähig. Denn sie erreicht Mehrheiten nur, wenn es ihr gelingt, traditionelle Wählerschichten in der Arbeitnehmerschaft (und auch bei den sozial Schwächsten) zu halten bzw. wieder zu gewinnen und die Aufsteiger in der Arbeitnehmerschaft, die Selbstständigen und Freiberufler, die Beschäftigten des gehobenen und höheren öffentlichen Dienstes in wesentlich stärkerem Maße anzusprechen. Mit der Mehrheitsfähigkeit verliert die SPD natürlich auch ihre Politikfähigkeit.

Den Gewerkschaften droht, jenseits von Betrieben oder Verwaltungen und Tarif-auseinandersetzungen, auch die Einschränkung ihrer Politikfähigkeit, wenn sie zu keiner der im Bundestag vertretenen Parteien einen kontinuierlichen und konstruktiven Gesprächszusammenhang haben. Eine nur auf Mobilisierungsdruck aufgebaute Politikfähigkeit ist in der sozialen und politischen Situation in Deutschland weder wünschenswert noch realistisch.

SPD und Gewerkschaften bedürfen einer gewissen programmatischen Neuorientierung als Grundlage ihre dauerhaften Politikfähigkeit. Die SPD braucht ein zeitgemäßes Programm der sozialen Demokratie mit einem erneuerten Keynesianismus als Alternative zum Neoliberalismus. Die Gewerkschaften müssen programmatisch und praktisch vollziehen, dass eine funktionierende Wettbewerbswirtschaft die Grundlage des Sozialstaates ist. Ein aktivierender Sozialstaat versucht die Solidarität als Balance zwischen Gemeinschaftsverpflichtung und Eigenverantwortung in praktische Politik umzusetzen und ist selbst wieder Voraussetzung ökonomischer Effizienz und gesellschaftlicher Mobilität.

Die Gewerkschaften sind auf der Grundlage ihrer parteipolitischen Neutralität keiner Partei verpflichtet. Sie müssen im Interesse ihrer Mitglieder natürlich versuchen, im Kontakt mit allen Parteien ihre politischen Forderungen durchzusetzen. Aber es wäre ein Illusion in Deutschland auf absehbare Zeit mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Teilhabe und Mitbestimmung, eine bessere soziale Sicherung und mehr gestaltenden Einfluss auf Europäisierung und Globalisierung jenseits der SPD politisch durchsetzen zu können.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 17:16:23 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



http://www.fr-aktuell.de/ressorts/bildung_und_beruf/bildung/?cnt=216166

Riskante bildungspolitische Fahrt im Nebel

Der Bildungsforscher Andreas Schleicher über Versäumnisse nach Pisa und Fehler eines Zwei-Säulen-Schulmodells

FR: Sie mahnen in Ihren Vorträgen in Deutschland immer wieder an, dass man sich über langfristige Ziele verständigen muss. Sehen Sie Ansatzpunkte, dass eine solche Debatte in Gang kommt?

Andreas Schleicher: Es sind sicher eine Reihe interessanter bildungspolitischer Maßnahmen eingeleitet worden. Eine breite gesellschaftliche Debatte über strategische Reformen, die den sich verändernden Anforderungen der Gesellschaft wirklich gerecht werden, kann ich aus internationaler Sicht aber nicht erkennen.

Immerhin wird wieder offener über Strukturfragen gesprochen. Wie etwa in der nordrhein-westfälischen SPD, die offenbar ein Zwei-Säulenmodell - hie Gymnasium, da Sekundarschule - aufbauen will?

Das kann ein Schritt hin zu einem offeneren Bildungsangebot sein. Aber Strukturreformen sind nur ein Instrument. Entscheidend ist aber das Ziel, nämlich konstruktiv und individuell mit Leistungsunterschieden umzugehen, also sowohl Schwächen und Benachteiligungen auszugleichen als auch Talente zu finden und zu fördern. Bei dem Eckpunktepapier der SPD in Nordrhein-Westfalen habe ich den Eindruck, dass es vorwiegend um institutionelle Strukturen geht, dass aber wenig dazu gesagt wird, was man damit wirklich erreichen will.

Aber der institutionelle Rahmen ist wichtig. Er muss doch zum Ziel individueller Förderung passen.

Sicher, und da ist das Zwei-Säulensystem ja auch nicht neu. Das österreichische Bildungssystem z. B. beruht auf diesem Modell und erzielt insgesamt bessere Ergebnisse. Dort hat man die Volksschule, wie die Sekundarschule dort heißt, zu einem zukunftsfähigen Bildungsbereich ausgebaut, der Zugang zu anspruchsvollen weiterführenden Bildungsgängen bietet, einschließlich der Hochschule.


Im Interview
Wer in Deutschland nur Schulstrukturen ändert, betreibt halbgare Bildungspolitik, sagt Andreas Schleicher, Leiter des Pisa-Programms zur Bewertung internationaler Schülerleistungen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. FR-Mitarbeiter Karl-Heinz Heinemann sprach mit dem Chef der OECD-Abteilung für Bildungsstatistik über Chancenungleichheit und die Macken der deutschen Gesamtschule.


In Deutschland traut sich niemand, das Gymnasium anzutasten.

Die Zusammenschau der Ergebnisse von Pisa und Iglu zeigt aber klar, dass das Ziel der frühzeitigen Differenzierung, nämlich leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler durch Trennung in verschiedene Schulformen optimal zu fördern, verfehlt wird. Weder werden in den Hauptschulen leistungsschwächere Schüler besonders gut gefördert, noch ergibt die Auslese der vermeintlich leistungsstärksten Leser für das Gymnasium eine zufrieden stellende Leistungsspitze. Schaut man genauer hin, zeigt sich auch, dass Kinder mit ähnlichen Iglu-Leistungen sehr unterschiedliche Beurteilungen in Form von Lese- und Deutschnoten sowie Übergangsempfehlungen für weiterführende Schulformen erhalten. Das bedeutet, dass viele junge Leute, die eigentlich zur Leistungsspitze gehören, nie eine Chance bekommen. Da liegt der Denkfehler.

In der Pisa-Auswertung für die Bundesländer wird immer darauf verwiesen, dass Länder mit relativ vielen Gesamtschulen, wie Nordrhein-Westfalen, deutlich schlechter abschneiden als Länder, die hoch selektiv vorgehen, wie etwa Bayern. Das wird als Argument gegen mehr Integration ins Feld geführt.

Zunächst einmal darf man nicht den Fehler machen, den integrativen Ansatz und die individuelle Förderung, wie sie heute in den wirklich erfolgreichen Staaten praktiziert werden, mit der deutschen Gesamtschule gleichzusetzen. Die deutsche Gesamtschule unterscheidet sich vom gegliederten Schulsystem ja nicht grundsätzlich. Auch dort wird auf homogene Leistungsgruppen gesetzt, auch dort wird institutionell differenziert, auch dort übernehmen die Schulen nicht die Verantwortung für Leistungsunterschiede. Man kann sogar umgekehrt sagen: Wenn man schon ein gegliedertes System hat, wie ja auch in Nordrhein-Westfalen, dann ist es besser, damit auch konsequent umzugehen, so wie es in Bayern geschieht. Die ineffektivste Lösung ist zu sagen: Wir haben ein gegliedertes System, aber wir verteilen die Schüler nach einer Art Zufallsprinzip auf die Schulformen.

Ein Problem ist die Denkweise vieler Lehrkräfte, immer noch auslesen zu können.

Richtig. Die Verantwortung für eine hohe Qualität der Bildungsleistungen, aber auch für eine gerechte Verteilung von Bildungschancen wird den Lehrern und Schulen abgenommen, indem sie sich die Klientel auswählen können. Für den Schüler, der Bildungsziele verfehlt, sind die Konsequenzen dagegen klar - der bleibt sitzen. In den leistungsstärksten Staaten ist es dagegen Aufgabe der Schule, konstruktiv mit Leistungsunterschieden umzugehen und Leistungsdefizite gezielt und individuell auszugleichen, ohne dass die Möglichkeit bestände, Schüler den Jahrgang wiederholen zu lassen oder sie in Bildungsgänge bzw. Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen abzuschieben. Am Ende profitieren sowohl die leistungsstarken als auch die leistungsschwachen Schüler. Lehrer, die sagen, die Schüler gehörten nicht in ihre Klasse oder sie seien für deren Unterricht nicht ausgebildet, werden in diesen Ländern Bibliothekare.

Man könnte doch einfach per Gesetz oder Erlass anordnen, dass jede Schule die Schüler ab Klasse 5 zu einem Abschluss nach Klasse 10 führen muss.

Das hat Finnland in etwa auch so gemacht. Man hat den Schulen dort jede Möglichkeit genommen, die Verantwortung für Bildungserfolg auf die Schüler abzuwälzen. Dort wurden Sonderschulen abgeschafft. Dort wurden Klassenwiederholungen abgeschafft. Und dort wurde auch das gegliederte Schulsystem abgeschafft, und es gibt dort niemanden mehr, der dem nachtrauert. Diese Reformen haben die Finnen aber mit wichtigen anderen Maßnahmen flankiert. So haben sie die Lehrerausbildung grundlegend reformiert, mit dem vorrangigen Ziel, Lehrer als Pädagogen auszubilden, die Schüler begleiten und dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Man hat außerdem die Schulaufsicht zu einem Instrument umgewandelt, dessen erste Aufgabe nicht Kontrolle, sondern wirkungsvolle Unterstützung der Einzelschule ist.

Man braucht dann aber auch Kontrolle. Die Ergebnisse müssen evaluiert werden.

Sicher, aber die entscheidende Frage ist, wie wir das wichtige Ziel der Evaluation in der Praxis umsetzen. Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Für den Schüler in Finnland aber heißt Evaluation in erster Linie, motivierende Leistungsrückmeldungen zu schaffen. Für die einzelne Schule ist Evaluation ein Mittel, um darin unterstützt zu werden, besser zu werden.

Ein gutes Evaluationssystem greift helfend ein, sobald ein Defizit aufgedeckt wird. Fehlen solche Mechanismen, also kann man Defizite wie zum Beispiel eine sozial ungleiche Verteilung von Bildungschancen nicht frühzeitig erkennen, so vergibt man die Chance, diese Probleme systematisch anzugehen. Dann wird Bildungspolitik und Bildungspraxis zu einer Fahrt im Nebel. Das Ergebnis kennen wir.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:50 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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Drückeberger, Ausgegrenzte

Betriebliche Weiterbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit / Lernen ist "sehr wichtig, aber nicht für mich"

Von Helga Ballauf

Heinz hat nach seiner Lehre zum Verpackungsmittelmechaniker 15 Jahre in dem Beruf gearbeitet - mal Früh-, mal Spätschicht. Immer wenn eine neue Produktionsanlage ins Werk kam, brachten ihm Kollegen bei, was er wissen musste. Dann eine Schulung für frisch gewählte Betriebsräte: Plötzlich ist Heinz mit einer "formalen Lernsituation" konfrontiert. Er hat Bammel, er kämpft mit dem Stoff, der in seinen Kopf hinein soll. Bis der Knoten platzt und der 33-Jährige spürt, dass er weder zu alt noch zu dumm zum Analysieren, Abstrahieren und Reflektieren ist. Nun macht er sich im Betrieb dafür stark, dass die Auszubildenden gleich nach der Facharbeiterprüfung auf Fortbildung geschickt werden: "Damit sie das Lernen erst gar nicht verlernen", sagt Heinz.

Die Anforderung, sich lebenslang weiterqualifizieren zu müssen, löst bei vielen Beschäftigten Ängste und Abwehr aus. Sie erinnern sich mit Schrecken an schlechte Noten in der Schule: Ich will nicht wieder versagen! Sie fühlen sich kritisiert: Du bist nicht mehr gut genug für den Job! Das, was du kannst, taugt nichts mehr! Sie fragen sich, was ihnen die zu erwartende Mühe persönlich bringt: Interessiert mich der Stoff? Wird meine Arbeit vielseitiger? Verdiene ich mehr? Komme ich beruflich weiter? Kann ich das mühevolle Lernen mit meinen Familienpflichten vereinbaren?

Sonja zum Beispiel. Die allein erziehende Mutter hat Geschichte studiert und arbeitet Teilzeit als Sachbearbeiterin in einer Verwaltung. Sie ist eindeutig überqualifiziert für den Job, den sie macht, nimmt aber keines der berufsbegleitenden Weiterbildungsangebote an. Denn Sonja will ihre freie Zeit ganz der kleinen Tochter widmen. Was in drei, vier Jahren sein wird, interessiert sie vorläufig nicht. Außerdem möchte sie bei den anderen Sachbearbeiterinnen nicht als Streberin gelten.

Tatsächlich stoßen Weiterbildungswillige im Kollegenkreis nicht automatisch auf Wohlwollen. Oft überwiegen handfeste Bedenken: Wenn X auf Schulung ist, muss ich ihre Arbeit mitmachen! Oder hat es Y etwa auf meinen Job abgesehen? Muss ich aufpassen, dass Z nicht an mir vorbei zieht und als Chef mir vorgesetzt wird? "Weiterbildung ist sehr wichtig - aber nicht für mich." Diese weit verbreitete Haltung hat Bildungsforscher Axel Bolder im Projekt "Weiterbildungsabstinenz" am Kölner Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO) systematisch untersucht. Er unterscheidet drei Typen. Erstens: Die "Desinteressierten", die mit Lernen einfach in Ruhe gelassen werden wollen. Was in ihrem Fall auch funktioniert: Sie gehören zu den Beschäftigten, die niemand - weder Chef, noch Kollegen, noch Betriebsrat - auffordert oder gar ermutigt, beruflich am Ball zu bleiben. Zweitens: die harten "Verweigerer". Sie schaffen es, mit Wegducken oder offenem Widerstand jeder neuen Anforderung aus dem Weg zu gehen. Drittens: Die "Ausgegrenzten", die durchaus an Weiterbildung interessiert wären, an die im Betrieb aber niemand denkt, wenn ein Kursplatz frei oder eine bessere Position zu besetzen ist.

So unterschiedlich die Motive für den Verzicht auf zusätzliche Qualifikationen sind, so verschieden müssen die Wege sein, Desinteressierte, Verweigerer und Ausgegrenzte zu locken. Lohnend, so Axel Bolder, sei Weiterbildung für die Beschäftigten immer nur dann, wenn "der persönliche berufsbiografische Gewinn" einleuchte. Wenn also Kosten, Lebenszeit und Anstrengung im akzeptablen Verhältnis zum erwartbaren Nutzen stehen. Wenn aber "Weiterbildung als nur fremdbestimmt erlebt wird, ist von Widerstand oder schlicht Abstinenzverhalten auszugehen."
Bolder empfiehlt den Betrieben, "die Interessen der (Wissens-)Arbeiter ernst zu nehmen". Dazu muss man sie allerdings kennen, was selten genug der Fall ist. Nicht umsonst hat der Gesetzgeber den Betriebsräten ausdrücklich das Recht übertragen, detailliert den Berufsbildungsbedarfs in einer Firma ermitteln zu lassen. Damit sind sowohl die Wünsche der Beschäftigten als auch die Anforderungen der Personalplaner gemeint. Viel hängt nun von der Methode der Befragung ab - ob die Beschäftigten in der Weiterbildung eine Chance zur persönlichen Entfaltung sehen oder sich erschrocken zurückziehen. Nach dem Motto: "Eigentlich sehr wichtig - aber nicht für mich."


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:42 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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Schwacher Bär

Sprachlose Berliner Kinder

Von Jeannette Goddar

Barbara John saß ihrem wohl größten Irrtum im Berufsleben vor 22 Jahren auf. Als sie 1981 zur ersten Ausländerbeauftragten der Republik ernannt wurde, glaubte die Berliner CDU-Politikerin, ihr Amt binnen weniger Jahre wieder abgeschafft zu haben: "Ich dachte, in zehn Jahren seien die wesentlichen Probleme der Integration gelöst." Wie falsch diese Einschätzung war, wurde selten so deutlich wie vor einigen Tagen. Da saß die 65-Jährige zum ersten Mal als ehrenamtliche Beraterin des Berliner Schulsenators Klaus Böger (SPD) auf dem Podium und stellte die Erkenntnisse der Sprachstandserhebung "Bärenstark" vor.

Die für Experten wenig überraschenden Ergebnisse: Vier von fünf Kindern nichtdeutscher Herkunft, die im August eingeschult werden, brauchen Förderunterricht. Fast jedes zweite von ihnen benötigt "intensive" Hilfe. Aber auch fast 30 Prozent der deutschen Kinder müssen gefördert werden. Zu viele Kleine konnten Körperteile wie "Arm", "Bein" oder "Kopf" nicht benennen und kannten den Unterschied zwischen "auf dem Tisch" und "unter dem Tisch" nicht.

Es ist unübersehbar: Hauptgründe für schlechte Deutsch-Kenntnisse sind nichtdeutsche Herkunft und das Aufwachsen in bildungsfernen Haushalten. Und nun? Bereits im vergangenen Jahr hatten Bildungsexperten wie der türkische Erziehungswissenschaftler Ali Ucar konstatiert: "Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fett" - an Stelle ständiger Tests bräuchten Kinder angemessene Förderung. Nun stellte Böger eine ganze Liste von Maßnahmen vor: Wahrscheinlich Einschulung prinzipiell mit fünfeinhalb Jahren, ganz sicher mehr Vorschulerziehung in den Kitas, die mit "Sprachlerntagebüchern" dokumentieren sollen, wie gut ein Kind deutsch spricht. Das heißt: eine andere Ausbildung und mehr Fortbildung für Erzieherinnen.

Auch an Schulen soll die Sprachentwicklung besser dokumentiert werden; nach Klasse 2 entscheidet ein Sprachtest über die Versetzung. Damit diesen möglichst viele bestehen, wird die Zahl der Lehrerstellen für "Deutsch als Zweitsprache" (DaZ) von knapp 800 auf 1000 erhöht. Außerdem soll DaZ zum Pflichtbestandteil der Lehrerausbildung werden. Für Lehramtsstudenten aus Nicht-EU-Staaten werden künftig drei Prozent der Referendariatsplätze freigehalten; damit wird 60 ausländischen Lehrern im Jahr der Weg in den Schuldienst geebnet.

Für "Vernetzung und Weiterentwicklung von Sprachförderung" in Kitas und Schulen ist ab 1. Juni Barbara John zuständig. Böger nahm ihr Angebot, nach ihrer Pensionierung ehrenamtlich weiter zu arbeiten, dankbar an. Nicht nur, weil sie einst Assistentin mit dem Schwerpunkt "Deutsch als Zweitsprache" an der Pädagogischen Hochschule war. Die gelernte Didaktikerin und erfahrene Ausländerbeauftragte verfügt über hervorragende Kontakte zu den Migranten.

Zu ihrem neuen Amt sagt sie: "Ich glaube nicht, dass wir Wunder vollbringen müssen. Kinder können gar nicht anders, als Sprachen zu lernen. Aber es muss uns gelingen, sie mit einer Sprache in Kontakt zu bringen, die zu Hause nicht gesprochen wird." Integration, so weiß sie inzwischen, "ist eine Jahrhundertaufgabe".


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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:44 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



http://www.fr-aktuell.de/ressorts/bildung_und_beruf/bildung/?cnt=216163

Verschiebungen

Berliner Unis in Aufruhr

Von Jeannette Goddar

Es liegt in der Natur akademischer Freiheit, dass an Universitäten zuweilen Vorlesungen angeboten werden, deren wissenschaftliche Wichtigkeit sich zufälligen Gästen nicht vollständig erschließt. Die Berliner Humboldt-Uni lockt derzeit mit der Veranstaltung "Studieninformationswoche". Untertitel: "im Zeichen des Immatrikulationsstopps". Vorige Woche hatte der Akademische Senat beschlossen, angesichts "ruinöser Sparforderungen" zum Wintersemester keine Studierenden aufzunehmen. Auch wenn die HU diesbezüglich juristisch nur dürftigste Chancen hat, so wirkt die Androhung doch vielleicht als Notruf: Wenn man den Wissenschaftssenator Thomas Flierl (PDS) zwingt, die Aufnahme von Studenten zu erzwingen, so die Logik, dann zwingt man ihn auch, die Verantwortung dafür zu übernehmen. So, hoffen die Humboldtianer, könne Flierl das Heft des Handelns wieder an sich reißen.

Denn seit Wochen tritt in Berlin der Finanzsenator auf, als sei er allein zuständig für sämtliche Hochschulbelange. Rechnete Finanzchef Thilo Sarrazin (SPD) zunächst nur vor, dass die Berliner Universitäten, je nach Modell, hundert bis sechshundert Millionen Euro zu teuer seien, macht er inzwischen auch inhaltliche Vorgaben. Zum Beispiel würden in Berlin viel zu viele Lehrer ausgebildet - obwohl doch das Studium für viele nur ein "Verlegenheitsstudium" sei, erklärte Sarrazin dem Tagesspiegel. Ohnehin drängten zu viele in "nicht produktive" Fächer, weswegen vor allem "relevante" Fächer wie Natur- und Ingenieurwissenschaften gefördert werden sollten. "Da muss es Verschiebungen geben", so der Finanzsenator.

An Stelle des Wissenschaftssenators, der sich merkwürdig zurückhält, reagierte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der plötzlich "keine Alternative" zu Studiengebühren mehr sah. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn pfiff ihren Parteifreund zurück; auf dem Landesparteitag verbuchte Wowereit am Wochenende aber einen Teilerfolg: Die Berliner SPD schließt nur noch für das Erststudium Gebühren aus.

In Zeiten verbaler Eskalation stößt die Hoffnung auf Einnahmen nicht einmal in den Unis auf Begeisterung, weil sie wohl kaum ihnen zuflössen. Auch der Vizepräsident der Freien Universität, Dieter Lenzen, der heute zum neuen Präsidenten gewählt werden soll, hält Studiengebühren für ein "falsches Signal": "Wir müssen mehr Studierende locken, nicht weniger."
Die Berliner Universitäten halten selbst Einsparungen von hundert Millionen Euro für indiskutabel. Das würde den Abbau von 3000 Stellen und den Verlust von tausenden Studienplätzen bedeuten, argumentieren sie. Die Unis erinnern daran, dass sie seit 1993 auf 500 Millionen Euro verzichtet haben. Die Technische und die FU verloren die Hälfte, die Humboldt-Uni ein Drittel ihrer Professoren. Und der nach einer Empfehlung des Wissenschaftsrates vor wenigen Jahren vorgenommene Abbau von 40 000 Studienplätzen hat zwar zu weniger Platz, aber nicht zu weniger Ansturm geführt. Jetzt drängeln sich auf den 85 000 finanzierten Studienplätzen über 130 000 Studierende.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:45 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



http://www.frankfurterrundschau.de/ressorts/bildung_und_beruf/bildung/?cnt=216170

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Pädagogik-WG im Haus des Lernens

Hamburg fasst sieben Einrichtungen zum großen Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung zusammen

Von Karsten Plog

Wenn staatliche Einrichtungen zusammengelegt werden, dann denkt die Öffentlichkeit derzeit zuerst ans Sparen und zuletzt an Leistung. Manchmal muss man umdenken: In Hamburg sind sieben bisher selbstständige Institute und Beratungsstellen zusammengepackt worden - das Staatliche Studienseminar, das Institut für Lehrerfortbildung, das Lehrerprüfungsamt, das Landesmedienzentrum, das Suchtpräventionszentrum, die Beratungsstelle für Gewaltprävention und die Beratungsstelle für besondere Begabungen. Sie gehen in einem neu gegründeten "Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung" (LI) auf. Das neue Institut mit 470 Mitarbeitern gilt als das umfassendste pädagogische Dienstleistungszentrum in der Bundesrepublik.

Gründungsdirektor ist Dietrich Lemke, in ein paar Monaten übernimmt Landesschulrat Peter Daschner die Leitung. Beide Beamte waren vom gegenwärtigen Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) nach Amtsantritt von der Spitze der Schulbehörde abberufen worden. Der bundesweit hoch geschätzte Daschner wurde Beauftragter für Lehrerbildung und baute zusammen mit Dietrich Lemke das Landesinstitut auf. Daschner ist überzeugt, dass man künftig nicht nur kostengünstiger, sondern auch effektiver arbeiten könne. Durch die Zusammenlegung "ergeben sich sinnvolle Synergieeffekte. Lehrkräfte und Schulen, aber auch Schüler und Eltern können besser unterstützt werden".

Es gibt mehrere Triebfedern für die Neugründung: natürlich die Haushaltsmisere, aber auch die Empfehlung der Hamburger Kommission für Lehrerbildung, bei der Ausbildung der Pädagogen enger und verbindlicher zusammenzuarbeiten. Schließlich die Ergebnisse der empirischen Schulforschung und der Pisa-Effekt: Es sei nötig, "auf allen Ebenen des Schulwesens massive Veränderungen vorzunehmen, auch was die Strukturen und Angebote der schulischen Unterstützungssysteme angeht", sagte Daschner bei der Gründung des Landesinstituts. Ähnliche Überlegungen gebe es auch etwa in Baden-Württemberg. Schleswig-Holstein beließ es nicht bei Worten: Das "Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein" ist neu.

Hauptaufgabe des Hamburger Instituts ist es, die Schulen mit Konzepten zu unterstützen, um Qualität und Standards des Unterrichts zu sichern und die Schulen zur Zusammenarbeit untereinander zu bewegen. Ein weites Feld muss beackert werden: Entwicklung und Förderung der Sprachkompetenz, der Lesekompetenz sowie des mathematischen und naturwissenschaftlichen Verständnisses - also Pisa pur. Weiter: Förderung benachteiligter Schülerinnen und Schüler, Lernen mit Neuen Medien, Anleitung der Lehrkräfte, um Unterrichtsergebnisse festzustellen und vergleichend zu bewerten.

Daschner liegt besonders am Herzen, dass sich das Institut als Dienstleister für ganze Schulen profiliert. "Wir müssen wegkommen von der Dienstleistung für einzelne Lehrerinteressen. Ein Lehrer meldet sich vielleicht, weil er mehr über Shakespeare-Dramen erfahren will. Da würden wir sagen, lieber Kollege, du hast studiert, du bist Fachmann. Du weißt auch, wie man an Literatur herankommt. Wir sind dafür da, die Englisch-Fachschaft einer Schule insgesamt weiter zu qualifizieren, damit es insgesamt bessere Ergebnisse beim Englischunterricht gibt."
Nach dem neuen, umstrittenen Lehrerarbeitszeitmodell für Hamburg ist jeder Lehrer verpflichtet, in der unterrichtsfreien Zeit an 30 Stunden im Jahr an schulinterner Lehrerfortbildung teilzunehmen. Daschner: "Wir müssen kluge Angebote machen und die Schulen dabei unterstützen." Das setze aber voraus, dass die Kollegien überlegten, "wo wir an unserer Schule gut sind und wo wir Defizite haben".

Der Entwurf für ein Leitbild des Landesinstituts liegt vor - "ein Haus des Lernens", das "bestrebt ist, ein glaubwürdiges Modell für eine lernende Organisation zu sein". Um dem Anspruch zu genügen, soll unter anderem die Zahl der Dauerstellen eingeschränkt werden. Daschner: "Es wird immer einen Stamm von Spezialisten geben, aber es ist ein stärkerer Wechsel geplant. Darüber hinaus werden wir einen Teil der Stellen in Geld umwandeln, um Honorare für Spezialisten von außerhalb bezahlen zu können. Auch heute gibt es bei uns ja schon Psychologen oder Unternehmensberater."
Sinnvoll fände Daschner es auch, den einzelnen Schulen Geld für die Fortbildung zu geben. "Wir haben das zwei Jahre lang bei einem Modellversuch gemacht. Die Auswertung ergab sehr gute Ergebnisse. Sobald eine Schulleitung für einen bestimmten Zweck über Geld verfügt, hat sie ein viel größeres Interesse daran, dieses Geld auch sinnvoll auszugeben." Daschner: "Ich überlege, wie man Kaufkraft für Fortbildung an die Schulen bringen kann. Wir haben gegenwärtig einen Innovationsfonds von rund 250 000 Euro, für den wir jährlich bestimmte Schwerpunkte ausschreiben, etwa die Kooperation zwischen Grundschulen und Kindertagesstätten oder Schüler-Feedback zum Unterricht. Da könnte man auch sagen, eine Schule bekommt für ein gutes Qualifizierungskonzept Geld. Ich finde, das wäre noch längst keine bedrohliche Entwicklung hin zur Privatisierung der Schulen."
Mittelfristig soll das neue Institut den jetzigen Status einer Dienststelle ablegen und mehr Eigenständigkeit erhalten. Zur Diskussion steht dabei eine Anstalt öffentlichen Rechts. Zuvor soll eine Kosten- und Leistungsrechnung aufgemacht werden.

Hamburgs Lehrer allerdings beschäftigt gegenwärtig weniger das neue Institut als vielmehr das von Schulsenator Rudolf Lange als bundesweit vorbildlich gepriesene Arbeitszeitmodell. Pädagogen protestieren mit Eltern und Schülern, weil rund 90 Prozent der Lehrer länger unterrichten müssen als bisher. Das hat nicht nur mit der "Neubewertung der Arbeitszeit" zu tun, sondern auch mit der allgemeinen Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit für Beamte von 38,5 auf 40 Stunden.


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Erscheinungsdatum 21.05.2003



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WIDERWORTE
Jeder Tag ohne Studiengebühren ist ein guter Tag

Von Jürgen Zöllner

Wieder einmal wird der "Königsweg" zur Lösung der Probleme unserer Hochschulen propagiert: Ob Jörg Dräger, parteiloser Wissenschaftssenator in Hamburg, oder neuerdings Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister Berlins - sie fordern unisono allgemeine Studiengebühren, also Gebühren vom ersten Semester an für alle Studierenden, unabhängig von deren finanziellen Situation. Der Beweis, dass das damit gekoppelte Versprechen - mehr Geld für Hochschulen, genauso viel oder gar mehr Studierende in Deutschland bei besser Ausbildungsqualität - gehalten wird, steht aber noch immer aus. Der "Königsweg" könnte sich sehr schnell als Irrweg erweisen!

2500 Euro pro Jahr sollen Studierende künftig ab Studienstart zahlen, fordert Dräger. Um Studiengebühr und Lebensunterhalt bestreiten zu können, soll der private Kreditmarkt elternunabhängige Darlehen für Studierende anbieten. Mit dem Einstieg in den Beruf werden einkommensabhängig Zinsen und Tilgung fällig. Während des Studiums ist das Darlehen zinsfrei. Diese Kosten trägt der Staat. Er muss auch einspringen bei Rückzahlungsschwierigkeiten und Rückzahlungsausfällen.

Dräger malt ein rosiges Bild - wie alle Gebührenbefürworter: mehr Geld in die Kassen der Hochschulen, Sozialverträglichkeit für die Studierenden und Kostenneutralität für den Staat. Wunderbar, wenn all diese Versprechen erfüllt werden könnten. Jeder Tag, der verstreichen würde, ohne das Studienfinanzierungsmodell in die Tat umzusetzen, wäre ein verlorener Tag. Doch es lohnt, näher hinzusehen.

Nach dem Hamburger Modell sind 2500 Euro pro Jahr an Gebühren fällig. Bereits diese Höhe lässt Zweifel an der propagierten Sozialverträglichkeit aufkommen. Sie liegt weit über den bisher diskutierten rund 1000 Euro jährlich. Je höher die Gebühr, desto mehr werden sich Studierende fragen: Ist das für mich finanzierbar? Jeder Studierwillige, der mit Nein antwortet, geht der Volkswirtschaft als hoch qualifizierter Arbeitnehmer verloren.

Der Vorschlag Drägers weist mit dem Bildungsdarlehen jedem Studierenden 4000 Euro jährlich für die Lebenshaltung zu. Ein karger Unterhalt. Der derzeitige BAföG-Höchstsatz liegt bei 4380 Euro im Jahr. Das Deutsche Studentenwerk weist die Lebenshaltungskosten pro Jahr mit rund 7660 Euro aus. Ohne elterliche Unterstützung wird es also trotz elternunabhängigem Darlehen nicht gehen. Warum auch nicht, mag man denken. Natürlich können Eltern ihren Kindern unter die Arme greifen - schließlich erhalten sie Kindergeld. Diese rund 1800 Euro im Jahr will das Hamburger Modell jedoch streichen. Das bisherige Kindergeld soll neben dem BAföG zur Finanzierung der staatlichen Kosten, die das Hamburger Modell verursacht, herangezogen werden. Das trifft nicht nur einkommensschwache Familien, sondern reicht bis in den Mittelstand. Wichtige Leistungsträger für die wirtschaftliche Entwicklung werden dadurch mit zusätzlichen Ausgaben belastet.

Nach dem Dräger-Modell soll die in einem fünfjährigen Studium angehäufte Darlehensschuld in Höhe von 32 500 Euro mit einem durchschnittlichen Satz von 8 Prozent des Bruttoeinkommens in Monatsraten von zunächst 250 und später 300 Euro über 13 Jahre zurückgezahlt werden. Das Hamburger Modell sagt zu: Wer weniger verdient, zahlt weniger oder zumindest weniger schnell zurück. Vielleicht hatte Senator Dräger hier den gut verdienenden Informatiker im Vergleich etwa zum geringer verdienenden Germanisten vor Augen. Hat er aber auch zum Vergleich an die Informatikerin gedacht? Das durchschnittliche Einkommen von Frauen mit Vollzeitbeschäftigung ist rund ein Drittel niedriger als das von Männern und sie sind zunehmend teilzeitbeschäftigt - nicht zuletzt wegen Familienaufgaben. Es sind also die Frauen, denen Herr Dräger verspricht, zumindest weniger schnell zurückzahlen zu müssen. Länger als 13 Jahre - ist das zumutbar?

Das Hamburger Modell verursacht nach eigenen Angaben jährlich staatliche Aus-gaben von rund 900 Millionen Euro. Es leuchtet unmittelbar ein - die entscheidende Größe für diese Kalkulation ist die Anzahl der Studierenden, die ein Darlehen in Anspruch nimmt. Eine solide Datenbasis für diese Berechnung ist schnell zu finden. Gerade hat die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre neueste Studierendenprognose veröffentlicht. KMK-Mitglied Hamburg muss das übersehen haben. Sonst hätte Dräger die neuesten Zahlen herangezogen. So aber geht er von 280 000 Studienanfängern aus, obwohl derzeit rund 360 000 jährlich ein Studium aufnehmen.

Es gibt noch mehr Fragwürdiges: Laut Hamburger Modell wird jeder dritte Studierende ein Darlehen beanspruchen. Wieso nur ein Drittel? Der Hinweis, dies sei ein höherer Prozentsatz als die heutige Quote der BAföG-Empfänger, zieht nicht. Denn BAföG wird nun mal nicht elternunabhängig vergeben - dies soll aber beim Bildungsdarlehen der Fall sein. Die finanziellen Berechnungen des Hamburger Modells beruhen auf unseriösen Annahmen. Die Kosten für den Staat liegen bei realistischen Prämissen um das Zwei- bis Dreifache höher, als der Minister dies veranschlagt. Die finanziellen Verbesserungen, die Hamburg den Hochschulen verspricht, gehen zu Lasten der Studierenden und des Staats. Da wäre es einfacher, die öffentlichen Mehrausgaben den Hochschulen direkt und nicht über den unsozialen Hamburger Umweg zufließen zu lassen.

Fazit: Jeder Tag, der verstreicht, ohne das Dräger-Modell umzusetzen, ist ein guter Tag.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:45:15 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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GESAMTSCHULE
Bundeselternrat wagt "Revolution"

Von Stephan Lüke

Der Bundeselternrat (BER), die Vertretung der Eltern von Schülern in Deutschland, fordert eine gemeinsame Schule für alle Kinder und damit das Ende der mehrgliedrigen Schulstruktur. Eine entsprechende Resolution verabschiedete der BER während seiner Tagung im brandenburgischen Ludwigsfelde.

Noch vor kurzem wäre eine solche gemeinsame Forderung als Reaktion auf die Bildungsstudien Pisa und Iglu undenkbar gewesen, weil die BER-Delegierten bislang immer zuerst für den Erhalt "ihrer" jeweiligen Schulform eintraten. In Ludwigsfelde aber ließen sich die Eltern von Wissenschaftlern beeindrucken, die darlegten, dass der "deutsche Weg" des strikten und frühen Aufteilens auf Schulformen in eine Sackgasse führe. Dass sich auch die Vertreter der Gymnasien und Realschulen überzeugen ließen, kommt in den Augen der BER-Vorsitzenden "einer Revolution" gleich. "Da saßen Eltern, denen es um die Kinder und nicht um Ideologien geht, die bereit sind, fehlerhafte Entwicklungen zu korrigieren", betont Renate Hendricks. Die Eltern seien bereit, den sich anbahnenden Richtungsstreit auszufechten.

"Wie schädlich die frühe Selektion ist, haben uns die Studien der jüngsten Vergangenheit offenbart", sagt Hendricks. An die Stelle der mehrgliedrigen Schulstruktur müsse eine gemeinsame Schule, etwa bis zum Ende der Pflichtschulzeit, treten. "Denn die Eltern wollen die bestmögliche Ausbildung für ihre Kinder. Und sie wollen eine Schulform, die eine individuelle und begabungsgerechte Förderung der Schülerinnen und Schüler ermöglicht", erklärt Hendricks.

Mit Sorge beobachten die Eltern die "partei- und verbandspolitisch gefärbten" Diskussionen über Schulstrukturen in den verschiedenen Bundesländern. Der Bundeselternrat appelliert an die Kultusminister, die bildungspolitische "Kleinstaaterei" zu überwinden.

Auch ein eingliedriges Schulsystem allein reicht nach Überzeugung der Eltern aber nicht aus, um Deutschland aus der Bildungsmisere zu führen. Sie mahnen eine systematische Verbesserung der Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern an. Das beinhalte Teamarbeit und Absprachen. Und: Die Schule müsse Arbeitsort für alle Lehrkräfte sein. Der BER hält bundesweite, schulformübergreifende Bildungsstandards ebenso für unerlässlich wie eine nationale Bildungsagentur, die mit dafür sorgen soll, dass sich Länderunterschiede in der Schulpolitik abschleifen.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:54 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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BEFRAGUNG
Bayerns Lehrer leiden unter Berufsstress

Nur 12 Prozent der Lehrer in Bayern gehen regulär mit 65 Jahren in Pension. Die Frühpensionierung von Pädagogen wegen Krankheit kostet den bayerischen Staat jährlich 250 Millionen Euro. Ein Drittel aller bayerischen Lehrkräfte gilt als akut gefährdet, wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt zu werden. Das sind Ergebnisse einer Befragung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) unter 3566 Lehrern. BLLV-Präsident Albin Dannhäuser wertete das Ergebnis als "Alarmzeichen für Gesellschaft und Politik".

Die Lehrer sollten das Ausmaß psychischer und physischer Belastung im Beruf selbst einschätzen. 26 Prozent der Grundschullehrer und 29 Prozent der Hauptschullehrer gaben an, "sehr stark" belastet zu sein, 54 beziehungsweise 56 Prozent kreuzten "stark" an. Als Hauptgründe nannten die Pädagogen mangelnde Lernbereitschaft der Schüler, Unfähigkeit zur Konzentration und Hyperaktivität, soziale Konflikte und Aggressionen.

Zwei von fünf Lehrern empfinden das Ausmaß ihres Unterrichtsdeputats als ständige, ein weiteres Viertel als häufige Belastung. Auch die Länge des Unterrichtstages und das Fehlen von Erholungspausen sind Leidensquellen. Große Klassen lassen aus Sicht der Pädagogen einen effektiven und für Schüler erfolgreichen Unterricht nicht zu. Schließlich machen Lehrern das Desinteresse und die Nichterreichbarkeit von Eltern zu schaffen. gle


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:45:02 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003


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GEBüHREN
Studentenwerk zeigt auf schlechtes Vorbild USA

Das Deutsche Studentenwerk (DSW) hat neue Forderungen aus Union und SPD nach Einführung von Studiengebühren zurückgewiesen. Die jungen Menschen, die heute in der Ausbildung seien, müssten in den nächsten Jahren die Hauptlast der Sanierung der Rentenkassen tragen. Jetzt sollten sie auch noch für ihr eigenes Studium "kräftig zuzahlen", kritisierte DSW-Generalsekretär Dieter Schäferbarthold. Diese doppelte Belastung sei ein "Bruch des Generationenvertrags". Um das hohe Ziel zu erreichen, dass 40 Prozent eines Altersjahrgangs studieren, müsse man gerade in einkommensschwachen und eher bildungsfernen Schichten für das Studium werben. Aber gerade auf diese Jugendlichen wirkten Gebühren "abschreckend".

Eine neue Untersuchung aus den USA zeige, dass sich dort immer Eltern und Studierende verschulden, um steigende Studiengebühren zu bezahlen. Wegen unzureichender staatlicher Zuschüsse hätten die US-Hochschulen die Gebühren seit 1980 auf jährlich rund 3500 Dollar mehr als verdoppelt. Gering verdienende Familien gäben inzwischen ein Viertel des Einkommens für ein Uni-Studium aus. dpa


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:45:07 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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LEICHTE ÜBUNG
Iiieh-Learning

Von Bernd Weidenmann

Das "e" beim "e-learning" regt die Fantasie an. Bedeutet es "everything", alles, oder "easy", leicht? Wer das "e" so deutet, ist offenkundig überglücklich darüber, dass es e-learning gibt. So muss die Freude über die ersten Autos, die ersten Telefone, die ersten Fernsehapparate gewesen sein. Auch die Gründe für die Freude sind ähnlich: Zugewinn an Mobilität, Überbrücken von Entfernungen, Erschließen von Zugängen zu Informationen, mehr Wahlmöglichkeiten. Beim e-learning heißt das: Ich kann weitgehend bestimmen, wann, wo und mit wem ich lerne, was ich wie intensiv in welcher Reihenfolge lerne.

Endlich ist Schluss mit dem fremdbestimmten Lernen in Zwangsgemeinschaften mit anderen Teilnehmern. Vorbei die Abhängigkeit von Trainern und anderen Experten, die nur verfügbar sind, solange der Kurs oder das Seminar dauert. Jetzt wird alles anders. Wenn ich mehr Zeit und Wiederholungen brauche, kann ich sie mir genehmigen, ohne dass ich anderen auf die Nerven gehe oder mich blamiere. Am PC kann ich es mir gemütlich machen, mir die Zeit nach meinem Schlafrhythmus einteilen. Wenn ich Kontakt brauche, maile ich meinen Teletutor an, logge mich in den Lernerchat oder poste eine Botschaft in die Lerner-Newsgroup. Jetzt bin ich meine eigene Lern-AG. Danke, e-learning!

Doch die ersten Erfahrungen mit e-learning hören sich gar nicht lernparadiesisch an. Erschreckend viele Teilnehmer brechen E-learning-Kurse vorzeitig ab. Eine neuere Studie berichtet von 70 Prozent. Die individuellen Lernzeiten und Lernerfolge weisen eine beunruhigend hohe Streuung auf. Auch die Kommunikation zwischen den Lernenden kränkelt. Foren werden kaum genutzt. Aufwendig geschulte Teletutoren, im Budget oft nicht einkalkuliert, müssen jetzt die Teilnehmer bei Laune und beim Lernen halten.

Anfangs hat man noch technische Unzulänglichkeiten und langweilige Lernprogramme für diese Probleme verantwortlich gemacht. Inzwischen verweisen die Indizien aber auf die e-Lerner selbst und ihre Lernkompetenz. Mit den Freiheiten und Optionen des e-learning scheinen nämlich solche Menschen am produktivsten umgehen zu können, die engagiert und hinsichtlich Zeit und Aufwand effektiv sowie nachhaltig lernen. Diese Lernprofis schneiden bei perfekten wie ungünstigen Lernbedingungen und Angeboten am besten ab. Sie beherrschen eben das Lernen.

Vieles spricht dafür, dass speziell das e-learning für diese Lerneliten wie geschaffen ist. Hier können sie ihr Steuerungs- und Selbstorganisationspotenzial voll ausspielen. Für die schwachen Lerner mit ihrem unterentwickelten Lernmanagement aber ist e-learning so bedrohlich wie Outdoortraining für Stubenhocker. Sie wursteln sich durch, bleiben immer wieder hängen und geben irgendwann auf.

Im traditionellen Lernbetrieb von Unterricht, Kurs und Seminar fallen diese Unterschiede zwischen den Lernern kaum auf. Da hängen auch die guten Lerner am Gängelband und lernen im Gleichschritt mit den anderen. E-learning als weitgehend selbst organisiertes und selbst gesteuertes Lernen aber scheidet unerbittlich die Spreu vom Weizen. Mit Blick auf die Mehrzahl der Lernamateure gibt es Handlungsbedarf. Sonst könnte es dazu kommen, dass in den aufwendigen Lernplattformen und corporate universities nur die Lernelite richtig zu Hause ist.

* Professor Bernd Weidenmann (Uni der Bundeswehr München) lehrt und forscht zu Erwachsenenlernen und Neuen Medien.


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:45:12 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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NUMERUS CLAUSUS
Uni Potsdam schottet sich wegen Berliner Plänen ab


Die Universität Potsdam hat für das kommende Wintersemester umfassende Zulassungsbeschränkungen beschlossen. Der auf alle Fächer ausgeweitete Numerus clausus sei die Reaktion auf die Entscheidung der Berliner Hochschulpräsidenten, einen drastischen Zulassungsstopp durchsetzen zu wollen, sagte eine Sprecherin der Uni Potsdam. Damit sei für alle 112 Studiengänge ein bestimmter Mindest-Notendurchschnitt im Zeugnis der Hochschulreife erforderlich. Bisher waren Fächer wie Slawistik, Germanistik oder Physik zulassungsfrei.

Die Potsdamer Uni befürchtet, dass eine "nicht zu kalkulierende" Anzahl potenzieller Berliner Studenten auf die Nachbarhochschule in Brandenburg ausweichen werde. Deshalb sei man zur schärferen Auswahl gezwungen, um die bisherige "Studierfähigkeit" Potsdam zu sichern, erklärte die Uni-Sprecherin. dpa


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:49 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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WEITER & BILDEN

Schneisen im IT-Dschungel

Der Weiterbildungsmarkt für Berufe in den Informationstechnologien (IT) wird durchschaubarer: Gewerkschaften, Arbeitgeber, das Bundesinstitut für Berufsbildung und das Bundesbildungsministerium haben gemeinsam mit einer neuen Struktur dem verwirrenden Durcheinander von 300 Abschlüssen und Zertifikaten ein Ende bereitet. Künftig stehen den ausgebildeten IT-Systemelektronikern, Fachinformatikerinnen, IT-Systemkaufleuten und Informatikkaufleuten auf drei Qualifikationsebenen 35 IT-Abschlüsse zur Auswahl. Zunächst können sie sich in 29 Bereichen spezialisieren (von Kundenberatung bis Produktentwicklung und Vertrieb). Eine Stufe höher ist der "operative Professional" (z.B. IT-Entwickler und IT-Ökonom) angesiedelt. Über eine weitere Schulung ist die Karriere als "strategischer Professional" für das höhere Management möglich. Die Industrie- und Handelskammern nehmen einheitliche Prüfungen ab. Sie rechnen jährlich mit 7000 bis 10 0000 Prüflingen. Zum Vergleich: Im Jahr 2001 begannen mehr als 20 000 junge Menschen mit einer Ausbildung in IT-Berufen. feu


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:52 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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LEUTE

Ute Herzfeld

Das rheinland-pfälzische Wissenschaftsministerium hat Professorin Ute Herzfeld (42) entlassen, nachdem sie immer wieder die Lehre an der Universität Trier geschwänzt hatte. "Das ist ein einmaliger Vorgang", so Ministeriumssprecher Karl Josef Pieper.

Universitätspräsident Peter Schwenkmezger sagt, er habe "Frau Herzfeld das letzte Mal im Sommer 2002 gesehen". Die Geomathematikerin, anerkannte Expertin auf ihrem Gebiet, forscht lieber in den USA. Den Antrag der Beamtin auf den Aufenthalt dort hat die Uni laut Schwenkmezger nie genehmigt. Dennoch ist sie abgereist und soll - wie Studierende des Trierer Fachbereichs Geographie und Geowissenschaften angeben - an der University of Colorado in Boulder arbeiten.

In Trier müssen Studenten schon seit dem Wintersemester 2001/2002 ohne die Professorin auskommen. Fachschaftssprecher Sven Altenburg sagt, in den zehn Semestern seines Studiums habe die Forscherin immer wieder einmal gefehlt - zum Ärger der rund 1600 Studierenden des Fachbereichs. Ein Assistent von Herzfeld und andere Kollegen sprangen als Ersatz ein.

Die Kündigung stützt sich darauf, dass die Forscherin nicht mehr auffindbar ist. Sie hat ihren Wohnsitz laut Recherchen des Ministeriums nicht mehr in der Europäischen Union. Das schon im vorigen Jahr gegen die Beamtin eingeleitete Disziplinarverfahren ist damit hinfällig. Schon im Februar vorigen Jahres hatte der Wissenschaftsminister das Gehalt der C4-Professorin erstmals eingefroren.

Herzfeld fand sich Mitte 2002 noch einmal zu einem kurzen Gastspiel in Trier ein. Wenig später aber war Herzfeld wieder weg - ihr Gehalt wurde erneut gestrichen. Ob die Stelle wieder besetzt wird, ist noch nicht entscheiden. dpa


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:45:09 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003



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LOB & PREIS

* Besonders vorbildliche Betreuung von Doktoranden lohnt sich:

Für seine geduldige und aufwendige Förderung von Nachwuchswissen-
schaftlern erhält Professor Jörg Hennig vom Germanistischen Seminar der Universität Hamburg den diesjährigen "Preis für Mentorship" der Claussen-Simon-Stiftung. Das Preisgeld beträgt 25 000 Euro. Die beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft angesiedelte Stiftung nimmt für die Auszeichnung nur Vorschläge von Jungwissenschaftlern an, die ihre Promotion an einer der Hamburger Hochschulen abgeschlossen haben.
Das Preisgeld will Hennig an Doktoranden verteilen, die an finanzielle Grenzen stoßen - etwa bei den Druckkosten für ihre Dissertation und bei Archiv- oder Recherchereisen. FR


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Dokument erstellt am 20.05.2003 um 16:44:47 Uhr
Erscheinungsdatum 21.05.2003


 

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