Presseschau im November 2002 (Teil 2)

 

http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/16/93447.html

Kita-System: Nannte Lange falsche Zahlen?

Das Defizit ist laut Studie um 5000 Plätze höher als vom Bildungssenator in der Bürgerschaft angegeben

Die Zahl der fehlenden Plätze in der Kindertagesbetreuung ist vermutlich doch größer als zunächst angenommen. Bildungssenator Rudolf Lange (FDP, 61) hatte am Donnerstag in der Bürgerschaft von einem Defizit in Höhe von 13 100 Kita-Plätzen gesprochen. Die aktuelle BIK-Studie, aus der auch Lange zitierte, weist nach Abendblatt-Informationen darüber hinaus noch mehr als 5000 weitere Plätze aus, die fehlen, um den Bedarf zu decken.

Dabei handelt es sich um die Gruppe der Eltern, die sich gar nicht erst um einen Betreuungsplatz für ihre Kinder bemühen, weil ihnen die Elternbeiträge zu hoch sind. Besonders groß ist der Anteil der Kinder, die auf einen Krippenplatz (bis zum Alter von drei Jahren) angewiesen wären.

"In der ISKA-Studie, dem Vorläufer zur jetzigen Untersuchung, war diese Gruppe auch nicht in die Berechnung einbezogen worden", sagte Hendrik Lange (29), Sprecher der Bildungsbehörde, zur Begründung. Allerdings: Nach Abendblatt-Informationen war damals im Gegensatz zur jetzigen Studie nicht danach gefragt worden, ob Eltern aus finanziellen Gründen auf eine Betreuung ihrer Kinder verzichteten.

In der kommenden Woche will der Senat das neue Kita-Gutschein-System beschließen. Auch wegen des zu erwartenden Platzmangels konzentriert sich bei der Umsetzung alles auf die Frage, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um auf jeden Fall einen Platz zu bekommen. Nach den Behördenplänen erhalten berufstätige Eltern, die erstmals einen Antrag auf einen Ganztagsplatz stellen, eine Zusage nur abhängig von der Haushaltslage. Genauso soll es den Vätern und Müttern gehen, die sich erst noch um eine Arbeit bemühen. Schon jetzt werden so genannte "virtuelle Wartelisten" in den Jugendämtern der Bezirke geführt.

Die Kriterien sind auch im Regierungslager nicht unumstritten. Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Marcus Weinberg (35) sieht "noch Handlungsbedarf bei der konkreten Umsetzung" des Kita-Gutschein-Systems. Die Umstellung auf das neue System müsse so gesteuert werden, dass "alle Beteiligten - auch Eltern und Träger - keinen Schaden nehmen". Um zu tragfähigen Lösungen zu kommen, will die CDU mit den unterschiedlichen Gruppen sprechen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) lehnt das neue System generell ab. "Wir fordern den Senat auf, mit den Staatseinnahmen bessere Bildungsbedingungen für alle Kinder zu schaffen", heißt es in einer GEW-Erklärung. pum

erschienen am 16. Nov 2002 in Hamburg

http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/16/93534.html

Und auf einmal war kein Physiklehrer mehr da

Weil immer wieder Unterrichtsstunden ausfallen, ergreifen jetzt die Eltern die Initiative. Und plötzlich tut sich etwas

Die Eltern an der Schule Röthmoorweg kämpfen um Physikunterricht für ihre Kinder. Bis vor einem Jahr gab es an der Haupt- und Realschule noch drei Physiklehrer. Heute sind sie alle weg - krank, schwanger, Schulwechsel. Schulleiter Nico Struß (49), selber Physiklehrer, steht allein vor 22 Wochenstunden Physik.

Kein Einzelfall: An der Grundschule An den Teichwiesen unterrichten inzwischen drei Mütter, an der Gesamtschule Bergedorf leitet ein Lehrer den Informatikleistungskurs, obwohl er nicht Informatik studiert hat. Insgesamt fällt nach letzten Untersuchungen an den allgemein bildenden Schulen 4,4 Prozent des Unterrichts aus, an Berufsschulen 2,9 Prozent. Hauptursache war mit knapp 80 Prozent die Erkrankung des Lehrers. In einem Fünftel der Fälle war der Lehrer wegen anderer Aufgaben oder einer Beurlaubung verhindert.

"Die Vertretungsrate, die wir derzeit in Hamburg haben, ist grotesk", sagt Magarete Eisele-Becker (53), Vorsitzende des Lehrerverbandes. Und: "345 Lehrerstellen sollen in diesem Schuljahr abgebaut werden. Das endet noch in einem Desaster."

So wie an der Schule Röthmoorweg. Dort übernahm der Direktor neben seiner Leitungsfunktion acht Physik-Stunden. Die restlichen 14 Stunden fielen wochenlang aus. "Ein unmöglicher Zustand", sagte sich der Elternratsvorsitzende Heinz Lüders (59). Immer wieder setzte er sich gemeinsam mit Schulleiter Struß bei der Oberschulrätin Jutta Schröter dafür ein, einen neuen Physiklehrer zu bekommen. Doch nichts geschah. In ganz Hamburg fand sich keine Schule, die einen Physiklehrer abgeben konnte. Schließlich schrieb Lüders einen Brief an den Bürgermeister.

Innerhalb weniger Tage tat sich plötzlich etwas: In einer Eilaktion wurden zwei Lehrer von anderen Schulen abgestellt, die jetzt jeweils vier Stunden Physik unterrichten. Aber: Sechs Stunden fallen weiter aus. Und es ist ungewiss, bis wann die Aushilfslehrer bleiben können. chf/pum

erschienen am 16. Nov 2002 in Hamburg

http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/16/93533.html

41 000 Unterschriften

Mehr als 41 000 Menschen haben die erste Volkspetition unterschrieben. Unter dem Motto "Bildung ist Menschenrecht - Gleiche Chancen für jedes Kind" hatten Verbände und Gewerkschaft zum Protest gegen die Schulpolitik des Mitte-Rechts-Senats aufgerufen. Am Montag wollen die Initiatoren die Unterschriftenlisten Bürgerschafts-präsidentin Dorothee Stapelfeldt (SPD, 46) übergeben.

In erster Linie richtet sich der Aufruf gegen den Unterrichtsausfall, zu große Klassen, die Streichung von Teilungs- und Förderstunden sowie den Abbau integrativer Angebote an den Schulen.

Die konkrete Forderung der Petition ist die Zurücknahme der Sparbeschlüsse des Senats und der Bürgerschaft.

Das 1996 geschaffene Instrument der Volkspetition ist zum ersten Mal genutzt worden. Die Bürgerschaft ist nun verpflichtet, das Thema auf ihre Tagesordnung zu setzen. pum

erschienen am 16. Nov 2002 in Hamburg

http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/16/93449.html

Neue Schul-Proteste

Der Protest gegen die absehbare Abschaffung der Integrativen Regelklassen (IR-Klassen) nimmt zu. Die Leiter der 36 Grundschulen mit IR-Klassen haben Bildungssenator Rudolf Lange (FDP, 61) jetzt aufgefordert, die Schulform zu erhalten.

"Der Senat ignoriert die Ergebnisse der Pisa-Studie, aus denen die Forderung nach längerem gemeinsamen Unterricht ohne Stigmatisierung und Ausgrenzung mit einem klaren Bekenntnis zur gleichberechtigten Förderung aller Kinder hervorgeht", schreiben die Schulleiter. Sie fordern "den zügigen Ausbau der Regelklassen an den Grundschulen sowie deren Übernahme als Regelangebot". Laut Bildungsbehörde haben 62 Grundschulen einen Antrag auf IR-Klassen gestellt. Nach diesem Modell werden Kinder mit besonderem Förderbedarf gemeinsam mit anderen unterrichtet. In einem Brief an die Betroffenen hatte Schulamtsleiterin Ingeborg Knipper (69) den Bestand der IR-Klassen nur fürs nächste Schuljahr zugesichert. pum

erschienen am 16. Nov 2002 in Hamburg

http://www.welt.de/daten/2002/11/16/1116h1368753.htx

Lehrermangel - An zwei Hamburger Grundschulen unterrichten Eltern

"Jetzt müssen sogar Mütter und Väter einspringen"

An Hamburger Schulen unterrichten wegen des wachsenden Lehrermangels inzwischen auch Eltern. "Jetzt müssen sogar Mütter und Väter einspringen", sagte die Vorsitzende des Elternvereins Hamburg, Karen Medrow-Struß. Sie bestätigte damit einen Zeitungsbericht, nach dem die Lage an den Schulen dramatischer ist als je zuvor. Die Schulbehörde war für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen. An mindestens zwei Grundschulen werde der Unterricht teilweise von Eltern bestritten, erklärte Medrow-Struß. Aber auch an anderen Schulen werde überlegt, "ob Eltern nicht im Unterricht helfen könnten". Mit einer Volkspetition unter dem Motto "Bildung ist Menschenrecht" will das Bündnis gegen Bildungsabbau der Forderung Nachdruck verleihen. Mehr als 42.000 Hamburger haben inzwischen die Petition unterschrieben, die der Elternverein am Montag im Rathaus abgeben will. lno

Channel: Hamburg

Ressort: Hansestadt Hamburg

Erscheinungsdatum: 16. 11. 2002

http://www.mopo.de/nachrichten/101_17244.html

Schule | 16.11.2002

Lehrer krank: Es gibt keine Vertretung

Von Sandra Schäfer

Eltern beklagen Stundenausfall

Langfristige Erkrankungen, Schwangerschaft und Pensionierungen – an Hamburgs Schulen fallen massiv Lehrer aus, Vertretungen sind Mangelware. Eltern springen sogar schon als Ersatz ein (MOPO berichtete). Haarsträubende Einzelfälle? Keinesfalls. "Man hört es von allen Schulen", sagt Karen Medrow-Struss vom Elternverein Hamburg. "Wenn Lehrer erkranken, gibt es keine Vertretungen."

"Nicht einmal die Mindestversorgung ist noch gegeben", sagt Ilona Wilhelm, Sprecherin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Sie gibt zu bedenken, dass im weiteren Schuljahr noch rund 300 Lehrer pensioniert werden, deren Stellen nicht nachbesetzt werden. "Viele von ihnen werden zum Februar gehen. Dann verschlechtert sich die Lage noch einmal ganz dramatisch", so Wilhelm.

Früher musste die Schule in den ersten vier Wochen eines Ausfalls selbst stopfen, danach gab es einen Ersatzlehrer durch die Schulbehörde. Mittlerweile sind die Reserven so aufgebraucht, dass die Schulen selbst nichts mehr zum Stopfen haben und die Schulbehörde kaum Mittel für Ersatz-Einstellungen hat.

Eine betroffene Schule ist auch die Schule Röthmoorweg in Schnelsen. Dort ist eine Klassenlehrerin langfristig ausgefallen, die 23 Stunden unterrichtet hat. Als Hilfe hat die Schule nun zehn Stunden Entlastung bekommen. Diese Stunden werden von drei verschiedenen Lehrern abgedeckt, die von anderen Schulen anreisen. "Für die Kinder ist das eine Belastung", so Schulleiter Nico Struss. Gerade in der Grundschule bräuchten sie eigentlich eine feste Bezugsperson in Form eines Klassenlehrers. Weiteres Problem an der Schule: Seit August fehlt ein Physiklehrer – ein Ersatz für ihn ist überhaupt nicht in Aussicht.

http://www.mopo.de/nachrichten/101_17266.html

SPD: | 16.11.2002

Lange trickste bei Kita-Zahlen

Von Sandra Schäfer

Fehlen 18 000 statt genannter 13 000 Tagesstätten-Plätze? Bildungssenator zu Krisengespräch bei Betreibern

Hat Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) gestern nur die halbe "Kita-Wahrheit" verkündet? Das behauptet zumindest Kita-Experte Thomas Böwer von der SPD. Lange hatte gestern die neue Studie zum Bedarf an Kindergartenplätzen veröffentlicht. Ergebnis der Eltern-Befragung: Es fehlen angeblich "nur" etwa 13 000 Kita-Plätze. Also rund 4000 weniger, als eine Studie der rot-grünen Regierung von 1999 ergeben hatte.

Knackpunkt laut Böwer: Es wurde nur ein Teil der Studie veröffentlicht. Was fehlt: "Die Zahl der Eltern, die gesagt haben, dass sie keinen Kita-Platz brauchen, weil sie ihn nicht bezahlen können." Denn während in der 99er-Studie Elternbeiträge völlig ausgeklammert wurden, ist diesmal auch gefragt worden, ob bei bestimmten Beitragshöhen noch Interesse an einem Platz bestünde. Böwer dazu: "Und das dürfte bis zu 5000 Eltern abgeschreckt haben." Die Bildungsbehörde bestätigt, dass diese Zahlen nicht enthalten sind. "Die Studien sollen vergleichbar sein und die erste Studie hatte diese Angaben auch nicht abgefragt", so Behördensprecher Hendrik Lange.

Gestern traf sich Senator Lange mit den großen Kita-Trägern. Denn die Träger hatten massive Bedenken angemeldet, was die Kriterien für einen Kita-Platz betreffen. Denn viele Acht- und Sechs-Stunden-Angebote drohen zu Vier-Stunden-Plätzen zu schrumpfen. So könnten Eltern bei Arbeitslosigkeit den Kita-Platz verlieren, ebenso sieht es für das erste Kind aus, wenn Mütter ein zweites Kind bekommen und Erziehungszeit in Anspruch nehmen. Sehr brisant auch: Migrantenfamilien, die bisher einen Ganztagsplatz erhielten, würden nach den neuen Kriterien massiv durchs Raster fallen. Kontraproduktiv ist das gerade in Sachen Sprachförderung. Problematisch ist auch die Lage von allein Erziehenden. Denn sie müssen in Zukunft mit der großen Gruppe der Berufstätigen konkurrieren und hätten wenig Chancen auf einen Platz.

http://www.taz.de/pt/2002/11/16/a0320.nf/text

Der Kita-Klau

Neoliberale Bauchpolitik

"Warum sollte man Alleinerziehende vor berufstätigen Elternpaaren bevorzugen. Und warum die Arbeitslosen?" hat kürzlich ein an der Entwicklung der neuen Kita-Kriterien beteiligter Politiker gefragt. In der Kita-Frage wird derzeit neoliberale Bauchpolitik gemacht. Wenn es schon nicht der große Wurf wird, wenn man schon keinen Kita-Ausbau finanzieren kann, dann machen wir's halt irgendwie.

Kommentar von

KAIJA KUTTER

Frau ist unzufrieden zu Hause, will wieder arbeiten, dass kennt man zufällig. Selber aus der Mittelschicht, bedient man die Interessen derselben, stopft ein Loch und reist damit ein noch viel größeres auf, betreibt in den sozialen Brennpunkten einen regelrechten Kita-Klau.

Aber wenn es tatsächlich zu wenig Plätze gibt, muss man sie jenen geben, die sie brauchen, um zu existieren. Nach Langes Konzept müssen Alleinerziehende erst in die Sozialhilfe abrutschen und dann Arbeit bekommen, bevor sie sicher einen Kita-Platz erhalten. Das ist viel zu spät und eine unnötige Erniedrigung.

Wer etwas für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tun will, muss jetzt in Berlin um Mittel werben, die den Kita-Ausbau möglich machen. Lange dagegen will uns weismachen, dass gar nicht so viele Plätze fehlen. Wie fragwürdig das ist, wird deutlich, wenn man seine Argumente auf die Ganztagstagsschulen übertrüge. Für die gäbe es, wären sie mit saftigen Gebühren belegt, gewiss auch kaum Bedarf.

taz Hamburg Nr. 6906 vom 16.11.2002, Seite 25, 50 Kommentar KAIJA KUTTER, Lokalspitze

http://www.taz.de/pt/2002/11/16/a0321.nf/text

"Schlimmer als die Kita-Card"

Elternverein: Langes Reform der Kinderbetreuung ist ein Sparmodell. Alleinerziehende sind die VerlierInnen, aber auch alle anderen müssen um ihren Platz zittern. Sozialer Bedarf wird vernachlässigt. Budget differenziert nicht nach Stadtteilen

von KAIJA KUTTER

In der Kita-Politik überschlagen sich derzeit die Ereignisse. Nachdem Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) den angebotenen "Pakt für Kinder" abgelehnt hat, will der SPD-Politiker Thomas Böwer weiter "aufklären und aufdecken, wie es meine Aufgabe als Opposition ist". Beispielsweise über die Art, wie Lange den Kita-Bedarf herunterrechnet. Betrachtet man die zwei Jahre alte ISKA-Studie, so wird die von Lange am Donnerstag bejubelte Absenkung des Defizits von 16.700 auf 13.100 Plätze allein durch Senkung des sozialen Bedarfs um 3425 auf 4075 Plätze erreicht. Nach taz-Informationen kommen noch mal knapp 6000 Eltern hinzu, die zwar Anspruch auf einen Gutschein hätten, sich aber die Zuzahlung nicht leisten können. Insgesamt fehlen Hamburg damit 22.000 Plätze.

Gestern schlug der Elternverein "FamilienPower" Alarm. Sein Fazit: Langes Gutschein-System ist noch viel schlimmer als die von Rot-Grün geplante Kita-Card. Diese sah nach sozialen Indikatoren verteilte Bugets für die Bezirke vor. Lange plant dagegen ein Riesenbudget für die ganze Stadt, das Wilhelmsburg genauso behandelt wie Blankenese und lediglich nach Krippen-, Hort- und Elementarbereich unterscheidet.

Die Anträge der Eltern kommen in eine große Wartelistentrommel, aus der einmal pro Monat gezogen wird. "Die Bezirke haben bei dieser Zentralisierung nicht mehr mitzureden. Den ,kleinen Dienstweg' zwischen Sachbearbeiter und Kita-Leitung über Platzbelegung wird es nicht mehr geben", sagt FamilienPower-Sprecher Matthias Taube.

Seine Horror-Vision: Hilfslose Eltern, die ihren Gutschein irgendwann bekommen, ihn aber dann nicht bei der Kita gegenüber einlösen können, weil andere schneller waren. Nicht eingelöste Gutscheine verfallen, und das Budget wird im Folgejahr um diesen Betrag abgeschmolzen. Taube: "Ein Sparmodell".

Laut FamilienPower müssen auch weit mehr Eltern um den Platz fürchten als bisher angenommen. So gibt es nur für Kinder Berufstätiger eine "Anschlussbewilligung". Alle anderen kommen auf den Prüfstand. Um deutlich zu machen, was die neuen "Bewilligungskriterien" von Lange bedeuten, hat der Elternverein fünf Fallbeispiele konstruiert:

Fall 1: Eine allein erziehende Studentin hatte bisher erste Priorität. Will sie künftig für ihre 10-monatige Tochter einen Krippenplatz, konkurriert sie mit allen Berufstätigen um einen Krippengutschein, von denen es 6000 zu wenig gibt. Ein doppelt verdienendes Ehepaar, das ein zweites Kind bekommt, hat sogar bessere Chancen, weil Geschwisterkinder bevorzugt werden.

Fall 2: Ein Ehepaar mit zwei Kindern (4 und 7 Jahre) arbeitet bei der Post. Die Frau wird arbeitslos, muss dies beim Kita-Sachgebiet melden (andernfalls muss sie nachträglich den Vollsatz von 850 Euro zahlen). Folge: der 7-Jährige verliert den Hortplatz, der 4-Jährige muss auf einen 4-Stunden-Platz wechseln und gegebenfalls die Kita wechseln. Die Mutter steht dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.

Fall 3: Ein Ehepaar bekommt ein zweites Kind, die Mutter will neun Monate Erziehungszeit nehmen. Der 4-jährige Bruder muss im neuen System wie im Fall 2 die Kita-Gruppe verlassen, und zwar sofort. Lediglich für Krippenkinder (also die Unter-Dreijährigen) gibt es Ausnahmen.

Fall 4: Eine Familie bezieht Sozialhilfe. Die zwei Söhne (4 und 7 Jahre) haben nach der alten Priorität drei - "Entwicklungsdefizit, besonderer Förderbedarf" - einen Ganztagesplatz. Der ältere verliert den Platz, der jüngere wird auf 4 Stunden zurückgestuft. Wäre das Ehepaar suchtabhängig, kämen die Kinder auf Priorität 1 und könnten bleiben.

Fall 5: Beide Eltern sind berufstätig, das Kind geht in die Kita und soll ab August 2003 zur Schule. Bislang war hier eine "Anschlussbewilligung" sicher. Künftig konkurrieren alle Schulkinder um die Hortgutscheine, von denen es selbst laut Behörde 4586 zu wenig gibt.

Wichtigste Forderung von FamilienPower ist die Beibehaltung der alten Platzhierarchie (siehe Kasten), die Alleinerziehende an die allererste Stelle setzt.

taz Hamburg Nr. 6906 vom 16.11.2002, Seite 25, 137 TAZ-Bericht KAIJA KUTTER

http://www.taz.de/pt/2002/11/16/a0319.nf/text

Kitas: Wer darf rein?

Die alte Reihenfolge

1. Kinder von Alleinerziehenden, die berufstätig sind oder eine Ausbildung machen.

2. Kinder, deren Eltern beide arbeiten oder arbeiten werden, weil sonst das Geld zum Lebensunterhalt nicht reicht. Hier zählt auch Ausbildung.

3. Kinder, die Entwicklungsdefizite aufweisen oder wegen sozialer Benachteiligung besonderer Förderung bedürfen.

4. Kinder, die wegen einer Beeinträchtigung ihrer Entwicklungschancen besondere Integrationshilfen brauchen (viele MigrantInnen).

5. Kinder, deren Eltern beide berufstätig sind, obwohl auch ein Gehalt zum Leben reichen würde.

taz Hamburg Nr. 6906 vom 16.11.2002, Seite 25, 22 TAZ-Bericht

http://www.taz.de/pt/2002/11/16/a0323.nf/text

"Wir sind eine Zumutung"

Straffällig gewordenen Jugendlichen Beziehungen anbieten, Erfolge verschaffen und Halt geben - am liebsten ohne Zaun: Wolfgang Lerche, Leiter des Landesbetriebes Erziehung und Berufsbildung, über den Auftrag geschlossener Heime

INTERVIEW: KAIJA KUTTER

Welche Rolle spielt der Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung (LEB) bei der geschlossenen Unterbringung?

Wolfgang Lerche: Wir wurden mit der Umsetzung beauftragt, weil der LEB als kommunaler Jugendhilfeträger der Steuerung des Senats unterliegt.

Machen Sie das Konzept?

Die Grundzüge hat der Senat in seiner Drucksache vorgegeben. Wir setzen das praktisch und pädagogisch um und suchen die geeigneten Mitarbeiter. Auf 10 Stellenausschreibungen haben wir 130 Bewerbungen.

Laut dem Jesteburger Senatsbeschluss sollte der LEB aufgelöst werden. Ist das vom Tisch?

Der Senat hat einen Prüfauftrag zur Weiterentwicklung des LEB erteilt, der nicht abgeschlossen ist. Als Ergebnis könnten wir Aufgaben abgeben oder hinzu bekommen. Schon fest steht, dass wir zum 1. Januar den Kinder- und Jugendnotdienst integrieren.

Gab es im LEB Skrupel, das geschlossene Heim zu gründen? Der Senat hat den Landesbetrieb schon immer genutzt, um jugendpolitische Ziele durchzusetzen, dafür sind wir auch da. Nun gibt es in der Umsetzung von Aufträgen Neigungsgruppen und Pflichtkurse. Die geschlossene Unterbringung ist etwas, was auch bei uns für Diskussionen sorgt. Einige Mitarbeiter ziehen ihre Identität daraus, dass sie noch an deren Abschaffung mitgewirkt haben. Und es gibt in der Tat eine Reihe von Risiken, denen man begegnen muss.

Die wären?

Man weiß, dass Anstaltskulturen mit einer eigenen Hierarchie entstehen können, die Pädagogen nicht wahrnehmen. Ein weiteres Risiko ist, dass sich die Jugendlichen lediglich an Regeln anpassen, statt sich innerlich weiter zu entwickeln. Ein nicht unerhebliches Risiko ist auch, dass es Gewalt zwischen Erziehern und Jugendlichen geben kann.

Das klingt gravierend. Wie vermeiden Sie diese Risiken?

Ein Faktor um Risiken zu minimieren ist, dass man sie kennt und benennt. So beschränkt unser Phasenmodell die Freiheit vor allem in der Eingangsphase. Diese kann so dazu dienen, die Jugendlichen mit der Einrichtung, den Regeln und den Mitarbeitern vertraut zu machen. Bewähren müssen sie sich letztendlich außerhalb. Deshalb soll es bereits nach vier bis sechs Wochen eine Phase geben, in der sie hinausgehen und Besorgungen, Arztbesuche oder ähnliches machen. In unseren intensiv betreuten Wohngruppen (IBW) zur U-Haft-Vermeidung, die wir vor zwei Jahren eingeführt haben, gibt es einen ähnlichen Einstieg. Dort dürfen die Jugendlichen per richterlicher Auflage die Einrichtung vier Wochen nicht verlassen. Die Sorge, dass sich dadurch ein Krisenpotential aufschaukelt, hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil, dies hat geholfen. Das andere, was wir tun: Wir suchen die besten Mitarbeiter. Sie brauchen ein umfassendes Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sie müssen in der Lage sein, sie auszuhalten und ihnen Halt zu geben.

Wie geht es danach weiter?

Es gibt eine zweite Phase von fünf Monaten mit begrenztem Ausgang. Die Jugendlichen können zu bestimmten Zeiten für bestimmte Aktivitäten das Haus verlassen. Wenn sie gegen gravierende Regeln verstoßen, kann es passieren, dass sie wieder in Phase eins kommen. Danach beginnt eine dritte Phase, in der die Jugendlichen ihre sozialen Wurzeln in der Außenwelt festigen sollen. Wir gehen davon aus, dass sie mindestens ein Jahr bei uns sind und wir ein Ruhepol in ihrer Biografie sind. Es handelt sich um junge Menschen, deren Leben von Diskontinuität geprägt ist. Das geht im Kleinkindalter los und bezieht sich auch auf das Handeln der Jugendhilfe. Dieses ist die eigentliche die Chance der intensiv betreuten Unterbringung: ein Haltepunkt in diesen so zerrissenen Biografien zu sein.

Wie finden die, die sich zu Unrecht eingesperrt sehen, Gehör?

Es werden sich wohl alle Jugendlichen dort zu Unrecht eingewiesen fühlen.

Also nehmen Sie's nicht ernst.

Doch, doch. Wir sind einerseits eine Zumutung für Jugendlichen. Sie müssen etwas lernen, was sie bisher nicht gelernt haben: verbindliche Beziehungen auszuhalten. Wir wollen ihnen im schulischen Bereich Erfolge vermitteln, wo sie bisher immer nur Misserfolge hatten. Wir werden Jugendlichen, die desaströse Schulkarrieren hinter sich haben, in ein Feld leiten, wo sie die größten Kränkungen und Ängste erfahren haben. Ihre Biografie ist von Vertrauensmissbrauch und Beziehungsabbrüchen geprägt. Deshalb werden sie misstrauisch sein und sich diesem verbindlichen Beziehungsangebot widersetzen. Die Nähe der Beziehungen lässt alte Verletzungen aufleben. Es dauert seine Zeit, bis sie glauben, dass man sie aushält und wertschätzt. Andererseits werden sie Selbstvertrauen und Kompetenzen gewinnen.

Der Landesjugendhilfeaussschuß fordert eine unabhängige Kommission für Jugendliche, die raus wollen. Gibt es die?

Wir sind für alles offen, was Transparenz schafft. Aber das Gesetz hat hier schon eine Menge Schutz vorgesehen. Es entscheidet ja nicht die Behörde, wer da reinkommt, sondern der Sorgeberechtigte, das heißt die Eltern oder der Amtsvormund. Zusätzlich braucht es immer die Erlaubnis eines Richters.

Sind die Vormünder unabhängig genug? Es sollen beim Familien-Interventions-Team (FIT) Vormünder bereit gehalten werden.

Das Gesetz sagt, dass zunächst nach privaten Vormündern gesucht wird. Die Praxis zeigt nur, dass man die kaum findet. Deshalb hat die Amtsvormundschaft große Bedeutung. Man könnte dem LEB als durchführendem Träger ein wirtschaftliches Interesse unterstellen, die Einrichtung zu füllen. Deshalb wäre es fatal, wenn wir hier eigene Akquise betrieben. Aber das FIT ist nicht beim LEB angesiedelt ist, sondern beim Amt für Familie, Jugend und Sozialordnung. Sie unterschätzen den Berufsethos von Amtsvormündern. Die sind den Familienrichtern unterstellt, nicht der normalen Hierarchie.

Wann wird das Heim eröffnet?

Wir hoffen, dass wir Mitte Dezember mit zwölf Plätzen in der Feuerbergstraße anfangen.

In besagtem Atriumbau?

Ja. Wir sind darauf vorbereitet, in einem zweiten Schritt weitere Gebäudeteile einzubeziehen. Wobei wir einen Neubau forcieren. Je eher wir ein Grundstück finden, desto besser.

Ist das Atrium mit seinen kleinen Kammern denn geeignet?

Wir richten das Gebäude so her, dass die Jugendlichen sich wohl fühlen können. Die Zimmer sind klein, aber die Gesamtmöglichkeiten des Gebäudes mit über 500 Quadratmetern sind entscheidend.

Wo können die Jugendlichen sich bewegen? Nur im Hof?

Die Räumlichkeiten sind nicht so, dass man da Ballspielen kann. Es gibt einen Bewegungs- und Trainingsraum, in dem wir aber keinen Kiezsport anbieten, eher Selbsterfahrung und Selbstverteidigung. Die Jugendlichen müssen sich aber auch abreagieren können. Gute Erfahrungen haben wir mit Punching-Händen gemacht. Da hält der Betreuer dem Jugendlichen die Hände hin, an denen er sich ausboxen kann. In späteren Phasen wollen wir die Jugendlichen in Sportvereine integrieren.

Langfristig wollen Sie neu bauen. Stimmt es, dass Ihnen dabei Heime ohne Zaun wie in Süddeutschland vorschweben?

Wir haben uns die Heime in Rummelsberg und Gauting angeschaut und eine Architektur erlebt, die deeskalierend sein kann. Nach unserer Vorstellung brauchen wir keinen Zaun.

Auch Flüchtlingskinder sollen in die Heime. Nur wegen illegalen Aufenthaltes?

Weder der Senat noch die Behörde noch wir haben vor, diese Einrichtung zur Abschiebeanstalt zu machen. Es ist eine Einrichtung der Jugendhilfe, die einen Erziehungsauftrag hat. Der Familienrichter und die Vormünder werden darauf achten, dass sie nur zu diesem Zweck genutzt wird.

Laut Drucksache sollen Sie dort aber auf die Abschiebung vorbereiten.

Auch Jugendliche ohne legalen Aufenthalt können in eine Situation kommen, wo man ihnen aus erzieherischen Gründen helfen muss. Das ist eine besondere Herausforderung. Wenn ein Jugendlicher aus Hamburg kommt, ist soziale Integration ein Schlüssel zum Erfolg. Dieses ist für die jungen Flüchtlinge keine realistische Perspektive. Deshalb müssen wir dort andere pädagogische Zielsetzungen haben. Dies heißt, wie bei dem anderen auch, Legalbewährung, Schluss machen mit Straftaten. Und es gilt, traumatische Fluchterfahrungen und Ängste, die mit der Rückführung in die Heimat verbunden sind, aufzuarbeiten.

Wie jung sind die Kinder?

Dadurch, dass die Fälle der U-Haft-Vermeidung ausgeklammert sind, dafür sind die IBW zuständig, rechnen wir mit 12- bis 16-Jährigen.

Werden Jugendliche flüchten?

Ja. Aber nicht so spektakulär. Es wird vorkommen, dass Jugendliche in der offenen Phase von Ausgängen nicht zurückkommen. Wir werden sie dann wieder aufnehmen und weiter zuständig sein. Das ist oberstes Prinzip.

taz Hamburg Nr. 6906 vom 16.11.2002, Seite 26, 299 Interview KAIJA KUTTER

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3000.php

Erst werden Lehrbücher gestrichen – dann Klassen

Obwohl Schüler schon jetzt ungenügende Bedingungen beklagen, kürzt die Stadt den Schuletat um Millionen

Von Anja Burkel

Das Schulreferat muss in den nächsten fünf Jahren mit 60 Millionen Euro weniger auskommen – dabei machen sich die Sparzwänge von Stadt und Freistaat schon jetzt massiv bemerkbar. Am Freitag demonstrierten etwa 200 Schüler und Lehrer auf dem Odeonsplatz gegen Kürzungen im Bildungswesen – und wiesen auf bestehende Mängel hin.

"Wir wollen zeitgemäß lernen", sagt der Schülersprecher der Städtischen Fachoberschule für Wirtschaft, Verwaltung und Recht, Sebastian Strasser. "Ein Informatikunterricht, in dem man Programmiersprachen wie QBasic und Pascal lernt, die schon vor fünf Jahren veraltet waren, ist peinlich." Manche Fächer würden schon ohne Lehrbücher unterrichtet, "weil die Lehrer sie für veraltet halten und die Schulen kein Geld für neue haben". An seiner Schule, sagt Strasser, würden zahlreiche Englisch- und Mathematikbücher nicht mehr verwendet. An vielen anderen Schulen seien darüber hinaus Wahlkurse am Nachmittag gestrichen worden, zum Beispiel Englische Konversation und Theater- Workshops. "In unserer modernen Gesellschaft", sagt Strasser, "werden aber gerade in diesen Fächern notwendige Schlüsselqualifikationen vermittelt." Wichtiger Unterricht falle aus, weil weder Staat noch Stadt fähig seien, Ersatzlehrer zu engagieren.

Wo die Stadt noch weitere 60 Millionen einsparen wird, ist nicht klar. Eins steht allerdings schon fest: Auch die 20 Städtischen Realschulen werden künftig nicht mehr von Klassenkürzungen verschont bleiben. "Bisher konnten wir in diesem Bereich nichts streichen, weil die sechsstufige Realschule noch im Aufbau ist", sagt die Sprecherin des Schulreferats, Eva-Maria Volland. Ab nächstem Schuljahr ist dieser Aufbau aber abgeschlossen – somit könnten "auch hier Eingangsklassen gedeckelt werden". Falls sich dann mehr Schüler anmelden, als die insgesamt 52 Eingangsklassen fassen können, müssten diese Jugendlichen an staatliche Schulen ausweichen; da der Freistaat in München aber nur zwei Realschulen unterhält, könnte es dort eng werden. "Dann", so die Forderung des Schulreferats, "muss der Staat eine neue Realschule einrichten."

Auch an städtischen Gymnasien und weiterführenden beruflichen Schulen sollen weiterhin Eingangsklassen gestrichen werden: An vielen Gymnasien kann laut Eva-Maria Volland aber nicht weiter gekürzt werden, damit mindestens drei Klassen pro Jahrgang erhalten blieben. Ansonsten wäre die Differenzierung der Schulen, zum Beispiel in einen naturwissenschaftlichen und einen neusprachlichen Zweig, nicht mehr möglich. Die Entscheidung über konkrete Sparvorschläge des Schulreferats wird der Stadtrat im Februar fällen.

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3016.php

Interview

"Der Freistaat zahlt für Lehrer zu wenig"

Ulrich Pfaffmann, neuer Leiter des SPD-Bildungsforums

Eigentlich sollte Ulrich Pfaffmann bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion werden. Bei der Abstimmung unterlag er aber der Oberpfälzerin Marianne Schieder. Nun übernahm Pfaffmann, der am Mittwoch mit dem Ergebnis von 94,6 Prozent erneut für den Landtag nominiert wurde, von Bürgermeisterin Gertraud Burkert das Münchner SPD-Bildungsforum.

SZ: Ist das ein erneuter Anlauf, Sie als Bildungsmann aufzubauen?

Pfaffmann: Ob das ein Aufbau für spätere landespolitische Positionen ist, kann ich nicht sagen. Ich würde das nicht so sehen. Ich bin ja im Bezirksvorstand schon für Bildungspolitik zuständig.

SZ: Das Bildungsforum der SPD gibt es schon länger. Es hat bislang aber wenig Furore gemacht.

Pfaffmann: Wir müssen sicherlich mehr an die Öffentlichkeit gehen. Es macht keinen Sinn, hinter verschlossenen Türen zu diskutieren.

SZ: In München drohen den Schulen drastische Einsparungen. Wie erklären Sie Lehrern, dass ihr Etat schrumpfen muss, es aber Geld für ein Stadion gibt?

Pfaffmann: Das ist tatsächlich ein Problem. Aber man muss ehrlich sein. Das Geld, das wir ausgeben werden, sind Mittel für den Straßen- oder U-Bahn-Bau, also kofinanziert durch Land und Bund. Es wäre gar nicht möglich, es umzuleiten. Entscheidend ist doch, dass der Konsolidierungsbeitrag des Schulreferats von 60 Millionen Euro auf einen Schlag erledigt wäre, käme uns der Staat bei den Lehrpersonalkostenzuschüssen entgegen.

SZ: Warum fordern Sie erst jetzt, wo die öffentliche Hand generell in Finanznöten steckt, einen 100-prozentigen Staatszuschuss für das Personal?

Pfaffmann: Es stimmt nicht, dass die Stadt bislang noch nicht versucht hat, diese Lehrpersonalkostenzuschuss-Frage zu regeln. Sie hat vor sechs Jahren zu einem Verfassungsstreit geführt. Das Problem ist doch: Im Gesetz steht, dass der Freistaat 60 Prozent Zuschüsse für das Personal geben muss; de facto gibt er aber nur 45 Prozent. Denn der Staat geht bei seinen Berechnungen von einem Lehrer-Muster-Mann aus. Familienzuschläge sind nicht ausreichend mitgerechnet.

SZ: Sollten Sie 100 Prozent bekommen, dann gäbe es aber doch keinen Unterschied mehr zwischen kommunalem und staatlichem Personal.

Pfaffmann: Wieso? 100 Prozent wären nur die Grundversorgung. Darüber könnte die Stadt freiwillig noch hinausgehen.

SZ: Freiwillig wird der Staat in der Finanzsituation kaum zusätzlich Geld geben. Gibt es eine rechtliche Handhabe?

Pfaffmann: Es gab schon einmal eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs gegen die Stadt. Die Begründung war damals, dass die Finanzlage der Kommunen nicht so dramatisch sei. Heute ist die Situation aber eine andere. Es könnte also möglicherweise einen Rechtsanspruch geben. Wir bauen aber vorerst noch auf eine politische Lösung.

Interview: Christine Burtscheidt

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3008.php

"Beide Seiten profitieren"

Schulreferat und Kirche einig über Ganztages-Gymnasium

Von Anja Burkel

und Monika Maier-Albang

Das Ziel ist klar, nicht aber das Wie und Wann: Das städtische Schulreferat und die evangelische Kirche haben sich bei einem Gespräch am Freitag grundsätzlich darauf verständigt, dass es ein evangelisches Ganztagesgymnasium in München geben soll. Beide Parteien nannten die Gespräche "sehr konstruktiv". Wie berichtet, will die evangelische Friedrich-Oberlin-Stiftung ein städtisches Gymnasium übernehmen und in eine private Ganztagesschule umwandeln. Welche Schule abgegeben werden soll, ist allerdings nach wie vor offen. Im Gespräch ist unter anderem das Pasinger Bertolt-Brecht-Gymnasium. Bislang habe sich die Stadt noch nicht auf eine Schule festgelegt, sagte Elisabeth Weiß-Söllner.

Eva Lettenmeier vom Sozialträger Augustinum, einem Kuratoriumsmitglied der evangelischen Stiftung, sieht nach dem Gespräch "keine unüberwindlichen Hindernisse". Schließlich würden beide Seiten profitieren: Die Stadt muss sparen, die Kirche will ein neues Schulkonzept verwirklichen. Entstehen soll ein Ganztagesgymnasium mit acht Jahrgangsstufen. Damit die Schule möglichst überschaubar und die Atmosphäre persönlich werde, sollen Lettenmeier zufolge nicht mehr als zwei Klassen pro Jahrgang geführt werden. Geplant sind ein naturwissenschaftlich-technischer und ein neusprachlicher Zweig. Bewusst soll ein Schwerpunkt auf "philosophische Wertevermittlung" gelegt werden. Hoher Stellenwert komme dabei dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht zu. Allerdings soll das Gymnasium auch offen für Schüler mit anderer Religionszugehörigkeit sein. Diese könnten sich dann vom Religionsunterricht befreien lassen. Einem Ethikunterricht steht der evangelische Träger ablehnend gegenüber.

Das Konzept soll im Detail mit den Eltern der zukünftigen Schüler und den Lehrern abgestimmt werden. Fest steht bereits, dass der Unterricht über den Tag verteilt wird. "Wir wollen auf den Biorhythmus der Kinder Rücksicht nehmen", erklärt Lettenmeier. Der Freistaat hat signalisiert, dass er 80 Prozent der Personalkosten für den privaten Träger übernehmen wird. Den Rest muss die Stiftung wohl weitgehend über Schulgeld finanzieren, von dem die alten Schüler jedoch nicht betroffen sein werden. Vorgesehen ist, dass jeder fünfte Schüler ein Stipendium erhält. Ein bis zwei Anfragen von interessierten Eltern bekommt die Stiftung bereits jetzt täglich.

Die Eltern des Bert-Brecht-Gymnasiums dagegen haben die Pläne der Stadt in helle Aufregung versetzt. Sie haben bereits 200 Unterschriften gegen die mögliche Umwandlung der Schule gesammelt und gestern Nachmittag eine Petition an OB Christian Ude und Bürgermeisterin Gertraud Burkert gerichtet. Einer Übergabe muss zunächst der Stadtrat zustimmen. Die Grünen-Fraktion erklärte: "Grundsätzlich ist dagegen in Zeiten äußerster Finanznot nichts einzuwenden." Geprüft werden müsse aber unter anderem, was mit Fünftklässlerinnen der ursprünglich städtischen Schule geschehen soll, die in diesem Jahr sitzenbleiben.

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3047.php

Deutsch wird Pflicht

Kultusministerium und Philologen einig über Abitur- Reform

Von Christine Burtscheidt

Straubing – Deutsch wird in Bayern voraussichtlich verpflichtendes Abiturfach werden. "Ich bin der Meinung: Deutsch gehört in den Kanon der verpflichtenden Abiturfächer", sagte Kultusstaatssekretär Karl Freller auf der Jahreshauptversammlung des Bayerischen Philologenverbands. Lesefähigkeit und souveräner Umgang mit der Muttersprache seien für den Erfolg in Ausbildung und Beruf ganz entscheidend. Ähnlich hatte sich zuvor Verbandschef Max Schmidt geäußert. Neben einer Schwerpunktsetzung auf die Muttersprache, Mathematik und die Naturwissenschaften forderte Schmidt jedoch, die "breite Palette allgemein bildender Fächer" nicht außer Acht zu lassen. Die 200 Delegierten des Philologenverbands werden an diesem Wochenende vor allem über die Reform der gymnasialen Oberstufe debattieren. Denn am 29. November ist sie erneut Gegenstand der dritten Tagung der Bildungskommission der Staatsregierung.

In wichtigen Punkten hat sich der Verband dabei bereits erklärt. So will er keineswegs an der neunjährigen gymnasialen Schulzeit rütteln. Auch plädiert er dafür, die Seminararbeit als Bestandteil des Abiturs beizubehalten. Für sinnvoll wird jedoch eine stärkere Öffnung der Schule gehalten. So sollen die bayerischen Gymnasien enger mit Hochschulen und der Wirtschaft zusammenarbeiten. Auch werden Auslandsaufenthalte und -praktika befürwortet.

Prinzipiell fordert der Verband zudem mehr Lehrerstellen für niedrigere Klassenstärken und eine individuellere Förderung der Schüler.


 

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